Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Wäldchen.
wenigstens Freiheit fanden, mit diesem und jenem
Stabe des Aberglaubens poetische Wunder zu thun,
warum nicht? Das Heldengedicht eines Mönchs
aus Padua auf seinen heiligen Antonius, oder eines
Mayländers auf seinen heil. Karl Borromäus
sei immer den Legenden seines Ordens, seiner Stadt,
seiner Zeit, seiner eignen Erziehung angemessen:
denn anders kann der ehrwürdige Pater nicht dich-
ten. Und wo werde ich an einen Riesen, an ein
Geschöpf seines Jahrhunderts, mit einem Zwerg-
maaße meiner Zeit, mit einem kritischen Regelchen,
hinzutreten, ohne daß mich seine Größe nicht be-
schäme!

Also blos von einem in der Religion erleuch-
teten Zeitpunkte:
und wo weiß der Kritikus,
wenn dieser Zeitpunkt voll Licht, oder nur voll Blen-
deschein des Lichts ist? wo soll ers, als Kritikus,
wissen? Das mag der Gottesgelehrte, der Polemi-
kus entscheiden; nicht der poetische Kunstrichter.
Der Dichter nimmt den herrschenden Religionsge-
schmack, oder besser, sein eignes Religionsgefühl, wie
er dazu gebildet worden, seinen eignen Horizont
von Religionsaussichten, und dichtet. Und so
muß der Kritikus ihn richten. Nicht daß er abso-
lute Wahrheit suche, nicht daß er frage, ob diese
und jene Religionsvorstellung auch rechtgläubig ge-
nau, exegetisch richtig, philosophisch erwiesen; son-
dern ob sie wahrscheinlich sey, ob sie könne poetisch

geglaubt,
E 5

Zweites Waͤldchen.
wenigſtens Freiheit fanden, mit dieſem und jenem
Stabe des Aberglaubens poetiſche Wunder zu thun,
warum nicht? Das Heldengedicht eines Moͤnchs
aus Padua auf ſeinen heiligen Antonius, oder eines
Maylaͤnders auf ſeinen heil. Karl Borromaͤus
ſei immer den Legenden ſeines Ordens, ſeiner Stadt,
ſeiner Zeit, ſeiner eignen Erziehung angemeſſen:
denn anders kann der ehrwuͤrdige Pater nicht dich-
ten. Und wo werde ich an einen Rieſen, an ein
Geſchoͤpf ſeines Jahrhunderts, mit einem Zwerg-
maaße meiner Zeit, mit einem kritiſchen Regelchen,
hinzutreten, ohne daß mich ſeine Groͤße nicht be-
ſchaͤme!

Alſo blos von einem in der Religion erleuch-
teten Zeitpunkte:
und wo weiß der Kritikus,
wenn dieſer Zeitpunkt voll Licht, oder nur voll Blen-
deſchein des Lichts iſt? wo ſoll ers, als Kritikus,
wiſſen? Das mag der Gottesgelehrte, der Polemi-
kus entſcheiden; nicht der poetiſche Kunſtrichter.
Der Dichter nimmt den herrſchenden Religionsge-
ſchmack, oder beſſer, ſein eignes Religionsgefuͤhl, wie
er dazu gebildet worden, ſeinen eignen Horizont
von Religionsausſichten, und dichtet. Und ſo
muß der Kritikus ihn richten. Nicht daß er abſo-
lute Wahrheit ſuche, nicht daß er frage, ob dieſe
und jene Religionsvorſtellung auch rechtglaͤubig ge-
nau, exegetiſch richtig, philoſophiſch erwieſen; ſon-
dern ob ſie wahrſcheinlich ſey, ob ſie koͤnne poetiſch

geglaubt,
E 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0079" n="73"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zweites Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
wenig&#x017F;tens Freiheit fanden, mit die&#x017F;em und jenem<lb/>
Stabe des Aberglaubens poeti&#x017F;che Wunder zu thun,<lb/>
warum nicht? Das Heldengedicht eines Mo&#x0364;nchs<lb/>
aus Padua auf &#x017F;einen heiligen Antonius, oder eines<lb/>
Mayla&#x0364;nders auf &#x017F;einen <hi rendition="#fr">heil. Karl Borroma&#x0364;us</hi><lb/>
&#x017F;ei immer den Legenden &#x017F;eines Ordens, &#x017F;einer Stadt,<lb/>
&#x017F;einer Zeit, &#x017F;einer eignen Erziehung angeme&#x017F;&#x017F;en:<lb/>
denn anders kann der ehrwu&#x0364;rdige Pater nicht dich-<lb/>
ten. Und wo werde ich an einen Rie&#x017F;en, an ein<lb/>
Ge&#x017F;cho&#x0364;pf &#x017F;eines Jahrhunderts, mit einem Zwerg-<lb/>
maaße meiner Zeit, mit einem kriti&#x017F;chen Regelchen,<lb/>
hinzutreten, ohne daß mich &#x017F;eine Gro&#x0364;ße nicht be-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;me!</p><lb/>
          <p>Al&#x017F;o blos von einem <hi rendition="#fr">in der Religion erleuch-<lb/>
teten Zeitpunkte:</hi> und wo weiß der Kritikus,<lb/>
wenn die&#x017F;er Zeitpunkt voll Licht, oder nur voll Blen-<lb/>
de&#x017F;chein des Lichts i&#x017F;t? wo &#x017F;oll ers, als Kritikus,<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en? Das mag der Gottesgelehrte, der Polemi-<lb/>
kus ent&#x017F;cheiden; nicht der poeti&#x017F;che Kun&#x017F;trichter.<lb/>
Der Dichter nimmt den herr&#x017F;chenden Religionsge-<lb/>
&#x017F;chmack, oder be&#x017F;&#x017F;er, &#x017F;ein eignes Religionsgefu&#x0364;hl, wie<lb/>
er dazu gebildet worden, &#x017F;einen eignen Horizont<lb/>
von Religionsaus&#x017F;ichten, und dichtet. Und &#x017F;o<lb/>
muß der Kritikus ihn richten. Nicht daß er ab&#x017F;o-<lb/>
lute Wahrheit &#x017F;uche, nicht daß er frage, ob die&#x017F;e<lb/>
und jene Religionsvor&#x017F;tellung auch rechtgla&#x0364;ubig ge-<lb/>
nau, exegeti&#x017F;ch richtig, philo&#x017F;ophi&#x017F;ch erwie&#x017F;en; &#x017F;on-<lb/>
dern ob &#x017F;ie wahr&#x017F;cheinlich &#x017F;ey, ob &#x017F;ie ko&#x0364;nne poeti&#x017F;ch<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E 5</fw><fw place="bottom" type="catch">geglaubt,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0079] Zweites Waͤldchen. wenigſtens Freiheit fanden, mit dieſem und jenem Stabe des Aberglaubens poetiſche Wunder zu thun, warum nicht? Das Heldengedicht eines Moͤnchs aus Padua auf ſeinen heiligen Antonius, oder eines Maylaͤnders auf ſeinen heil. Karl Borromaͤus ſei immer den Legenden ſeines Ordens, ſeiner Stadt, ſeiner Zeit, ſeiner eignen Erziehung angemeſſen: denn anders kann der ehrwuͤrdige Pater nicht dich- ten. Und wo werde ich an einen Rieſen, an ein Geſchoͤpf ſeines Jahrhunderts, mit einem Zwerg- maaße meiner Zeit, mit einem kritiſchen Regelchen, hinzutreten, ohne daß mich ſeine Groͤße nicht be- ſchaͤme! Alſo blos von einem in der Religion erleuch- teten Zeitpunkte: und wo weiß der Kritikus, wenn dieſer Zeitpunkt voll Licht, oder nur voll Blen- deſchein des Lichts iſt? wo ſoll ers, als Kritikus, wiſſen? Das mag der Gottesgelehrte, der Polemi- kus entſcheiden; nicht der poetiſche Kunſtrichter. Der Dichter nimmt den herrſchenden Religionsge- ſchmack, oder beſſer, ſein eignes Religionsgefuͤhl, wie er dazu gebildet worden, ſeinen eignen Horizont von Religionsausſichten, und dichtet. Und ſo muß der Kritikus ihn richten. Nicht daß er abſo- lute Wahrheit ſuche, nicht daß er frage, ob dieſe und jene Religionsvorſtellung auch rechtglaͤubig ge- nau, exegetiſch richtig, philoſophiſch erwieſen; ſon- dern ob ſie wahrſcheinlich ſey, ob ſie koͤnne poetiſch geglaubt, E 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/79
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/79>, abgerufen am 22.11.2024.