Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
nihil requirebatur amplius. Poetae vero vivi-
dum ingenium, dum Deos cogitat, statim descri-
ptionem aliquam immensae potestatis Deorum
praebet.
-- Was kann präceptormäßigers ge-
sagt werden? Jch sahe Horaz, wie einen Schulkna-
ben über sein Thema arbeiten, und den Lehrer dar-
neben: gut! gnug! der Verstand ist aus: zum
Thema wird nichts mehr erfodert; aber nun! eine
kleine Amplification. Permitte Divis cetera war
das letzte: Götter also -- wie können Götter etwa
umschrieben werden? fällt deiner lebhaften Einbil-
dungskraft -- -- O des armen Horaz! Wenn
Thaliarch zur Freude ermuntert werden mußte, was
natürlicher, als daß er mißvergnügt war, daß er
Unglück hatte? Und was für ein poetischer Bild
vom Unglücke, als Sturm, Seesturm? Und was
für ein paßlicher Bild in das Ganze dieser Win-
terode? Wer fühlt nicht sein Caminfeuer mit dop-
peltem Freudenschauer gleichsam, wenn der Wind
um die Fenster raset, wenn man sich Seestürme
dabei gedenkt, wenn von Meersgefahren daneben
erzählt wird? Wo ist hier die mindeste Digression
vom Thema der Ode?

Es ist keine Digression a), wenn Horaz in sei-
ner zweiten Ode eine kurze Beschreibung der Zeiten
Deukalions giebt: denn so sollen die damaligen
Schreckwunderzeiten in Rom gedacht werden. Er

ver-
a) p. 136.

Kritiſche Waͤlder.
nihil requirebatur amplius. Poëtae vero vivi-
dum ingenium, dum Deos cogitat, ſtatim deſcri-
ptionem aliquam immenſae poteſtatis Deorum
praebet.
— Was kann praͤceptormaͤßigers ge-
ſagt werden? Jch ſahe Horaz, wie einen Schulkna-
ben uͤber ſein Thema arbeiten, und den Lehrer dar-
neben: gut! gnug! der Verſtand iſt aus: zum
Thema wird nichts mehr erfodert; aber nun! eine
kleine Amplification. Permitte Divis cetera war
das letzte: Goͤtter alſo — wie koͤnnen Goͤtter etwa
umſchrieben werden? faͤllt deiner lebhaften Einbil-
dungskraft — — O des armen Horaz! Wenn
Thaliarch zur Freude ermuntert werden mußte, was
natuͤrlicher, als daß er mißvergnuͤgt war, daß er
Ungluͤck hatte? Und was fuͤr ein poetiſcher Bild
vom Ungluͤcke, als Sturm, Seeſturm? Und was
fuͤr ein paßlicher Bild in das Ganze dieſer Win-
terode? Wer fuͤhlt nicht ſein Caminfeuer mit dop-
peltem Freudenſchauer gleichſam, wenn der Wind
um die Fenſter raſet, wenn man ſich Seeſtuͤrme
dabei gedenkt, wenn von Meersgefahren daneben
erzaͤhlt wird? Wo iſt hier die mindeſte Digreſſion
vom Thema der Ode?

Es iſt keine Digreſſion a), wenn Horaz in ſei-
ner zweiten Ode eine kurze Beſchreibung der Zeiten
Deukalions giebt: denn ſo ſollen die damaligen
Schreckwunderzeiten in Rom gedacht werden. Er

ver-
a) p. 136.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0242" n="236"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/><hi rendition="#aq">nihil requirebatur amplius. Poëtae vero vivi-<lb/>
dum ingenium, dum Deos cogitat, &#x017F;tatim de&#x017F;cri-<lb/>
ptionem aliquam immen&#x017F;ae pote&#x017F;tatis Deorum<lb/>
praebet.</hi> &#x2014; Was kann pra&#x0364;ceptorma&#x0364;ßigers ge-<lb/>
&#x017F;agt werden? Jch &#x017F;ahe Horaz, wie einen Schulkna-<lb/>
ben u&#x0364;ber &#x017F;ein Thema arbeiten, und den Lehrer dar-<lb/>
neben: gut! gnug! der Ver&#x017F;tand i&#x017F;t aus: zum<lb/>
Thema wird nichts mehr erfodert; aber nun! eine<lb/>
kleine Amplification. <hi rendition="#aq">Permitte Divis cetera</hi> war<lb/>
das letzte: Go&#x0364;tter al&#x017F;o &#x2014; wie ko&#x0364;nnen Go&#x0364;tter etwa<lb/>
um&#x017F;chrieben werden? fa&#x0364;llt deiner lebhaften Einbil-<lb/>
dungskraft &#x2014; &#x2014; O des armen Horaz! Wenn<lb/>
Thaliarch zur Freude ermuntert werden mußte, was<lb/>
natu&#x0364;rlicher, als daß er mißvergnu&#x0364;gt war, daß er<lb/>
Unglu&#x0364;ck hatte? Und was fu&#x0364;r ein poeti&#x017F;cher Bild<lb/>
vom Unglu&#x0364;cke, als Sturm, See&#x017F;turm? Und was<lb/>
fu&#x0364;r ein paßlicher Bild in das Ganze die&#x017F;er Win-<lb/>
terode? Wer fu&#x0364;hlt nicht &#x017F;ein Caminfeuer mit dop-<lb/>
peltem Freuden&#x017F;chauer gleich&#x017F;am, wenn der Wind<lb/>
um die Fen&#x017F;ter ra&#x017F;et, wenn man &#x017F;ich See&#x017F;tu&#x0364;rme<lb/>
dabei gedenkt, wenn von Meersgefahren daneben<lb/>
erza&#x0364;hlt wird? Wo i&#x017F;t hier die minde&#x017F;te Digre&#x017F;&#x017F;ion<lb/>
vom Thema der Ode?</p><lb/>
          <p>Es i&#x017F;t keine Digre&#x017F;&#x017F;ion <note place="foot" n="a)"><hi rendition="#aq">p.</hi> 136.</note>, wenn Horaz in &#x017F;ei-<lb/>
ner zweiten Ode eine kurze Be&#x017F;chreibung der Zeiten<lb/>
Deukalions giebt: denn &#x017F;o &#x017F;ollen die damaligen<lb/>
Schreckwunderzeiten in Rom gedacht werden. Er<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ver-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[236/0242] Kritiſche Waͤlder. nihil requirebatur amplius. Poëtae vero vivi- dum ingenium, dum Deos cogitat, ſtatim deſcri- ptionem aliquam immenſae poteſtatis Deorum praebet. — Was kann praͤceptormaͤßigers ge- ſagt werden? Jch ſahe Horaz, wie einen Schulkna- ben uͤber ſein Thema arbeiten, und den Lehrer dar- neben: gut! gnug! der Verſtand iſt aus: zum Thema wird nichts mehr erfodert; aber nun! eine kleine Amplification. Permitte Divis cetera war das letzte: Goͤtter alſo — wie koͤnnen Goͤtter etwa umſchrieben werden? faͤllt deiner lebhaften Einbil- dungskraft — — O des armen Horaz! Wenn Thaliarch zur Freude ermuntert werden mußte, was natuͤrlicher, als daß er mißvergnuͤgt war, daß er Ungluͤck hatte? Und was fuͤr ein poetiſcher Bild vom Ungluͤcke, als Sturm, Seeſturm? Und was fuͤr ein paßlicher Bild in das Ganze dieſer Win- terode? Wer fuͤhlt nicht ſein Caminfeuer mit dop- peltem Freudenſchauer gleichſam, wenn der Wind um die Fenſter raſet, wenn man ſich Seeſtuͤrme dabei gedenkt, wenn von Meersgefahren daneben erzaͤhlt wird? Wo iſt hier die mindeſte Digreſſion vom Thema der Ode? Es iſt keine Digreſſion a), wenn Horaz in ſei- ner zweiten Ode eine kurze Beſchreibung der Zeiten Deukalions giebt: denn ſo ſollen die damaligen Schreckwunderzeiten in Rom gedacht werden. Er ver- a) p. 136.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/242
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/242>, abgerufen am 27.11.2024.