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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Zweites Wäldchen.

Die erhabensten, die kühnsten der uzischen Oden
fangen sich mäßig an: nur denn ist der Anfang ab-
gebrochen, wenn etwa ein lyrischer Ueberfall, ein ly-
risches Blendwerk uns bereitet werden soll, und das
ist meistens kurz, außerordentlich. Die abgebroch-
ne Hymne des Callimachus ist entheismos, und die
vortrefflichsten pindarischen Oden sind dem Anfange
nach sehr gesetzt, und mäßig. Jch kenne keine Re-
gel, die als locus communis von Horaz abgezogen,
und ohne Verbindung zum ersten Stücke seines lyri-
schen Odenbaues erhoben, auch abgebrochner, das
ist halbirt und mehr zu mißdeuten sey, als die: "er
"schreit abgebrochen, ohne erst Worte zu suchen,
"auf!"

2. Longae digressiones. Ein neuer Canon
der horazischen Ode, und oft ein sehr mißbrauchter
Canon. Meistens liegt in Horaz bei dem Anscheine
einer solchen Digression was wichtigers zum Grun-
de, was er mitnehmen, aber nicht zum Gesetze, son-
dern nach der Jndividualsituation seiner Ode so mit-
nehmen wollte; oft ists auch wirklich keine Digres-
sion, was wir so zu nennen belieben. Horaz er-
muntert den Thaliarchus zur Frölichkeit: sei gu-
tes Muths, und permitte Divis cetera, qui simul
stravere ventos etc.
Wer kann sich nun den Er-
klärer so einfallend denken a): Permitte Divis ce-
tera. Hic desinere poterat poeta. Ad sensum

nihil
a) p. 135.
Zweites Waͤldchen.

Die erhabenſten, die kuͤhnſten der uziſchen Oden
fangen ſich maͤßig an: nur denn iſt der Anfang ab-
gebrochen, wenn etwa ein lyriſcher Ueberfall, ein ly-
riſches Blendwerk uns bereitet werden ſoll, und das
iſt meiſtens kurz, außerordentlich. Die abgebroch-
ne Hymne des Callimachus iſt ενϑεισμος, und die
vortrefflichſten pindariſchen Oden ſind dem Anfange
nach ſehr geſetzt, und maͤßig. Jch kenne keine Re-
gel, die als locus communis von Horaz abgezogen,
und ohne Verbindung zum erſten Stuͤcke ſeines lyri-
ſchen Odenbaues erhoben, auch abgebrochner, das
iſt halbirt und mehr zu mißdeuten ſey, als die: „er
„ſchreit abgebrochen, ohne erſt Worte zu ſuchen,
„auf!„

2. Longae digreſſiones. Ein neuer Canon
der horaziſchen Ode, und oft ein ſehr mißbrauchter
Canon. Meiſtens liegt in Horaz bei dem Anſcheine
einer ſolchen Digreſſion was wichtigers zum Grun-
de, was er mitnehmen, aber nicht zum Geſetze, ſon-
dern nach der Jndividualſituation ſeiner Ode ſo mit-
nehmen wollte; oft iſts auch wirklich keine Digreſ-
ſion, was wir ſo zu nennen belieben. Horaz er-
muntert den Thaliarchus zur Froͤlichkeit: ſei gu-
tes Muths, und permitte Divis cetera, qui ſimul
ſtravere ventos etc.
Wer kann ſich nun den Er-
klaͤrer ſo einfallend denken a): Permitte Divis ce-
tera. Hic deſinere poterat poeta. Ad ſenſum

nihil
a) p. 135.
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[235/0241] Zweites Waͤldchen. Die erhabenſten, die kuͤhnſten der uziſchen Oden fangen ſich maͤßig an: nur denn iſt der Anfang ab- gebrochen, wenn etwa ein lyriſcher Ueberfall, ein ly- riſches Blendwerk uns bereitet werden ſoll, und das iſt meiſtens kurz, außerordentlich. Die abgebroch- ne Hymne des Callimachus iſt ενϑεισμος, und die vortrefflichſten pindariſchen Oden ſind dem Anfange nach ſehr geſetzt, und maͤßig. Jch kenne keine Re- gel, die als locus communis von Horaz abgezogen, und ohne Verbindung zum erſten Stuͤcke ſeines lyri- ſchen Odenbaues erhoben, auch abgebrochner, das iſt halbirt und mehr zu mißdeuten ſey, als die: „er „ſchreit abgebrochen, ohne erſt Worte zu ſuchen, „auf!„ 2. Longae digreſſiones. Ein neuer Canon der horaziſchen Ode, und oft ein ſehr mißbrauchter Canon. Meiſtens liegt in Horaz bei dem Anſcheine einer ſolchen Digreſſion was wichtigers zum Grun- de, was er mitnehmen, aber nicht zum Geſetze, ſon- dern nach der Jndividualſituation ſeiner Ode ſo mit- nehmen wollte; oft iſts auch wirklich keine Digreſ- ſion, was wir ſo zu nennen belieben. Horaz er- muntert den Thaliarchus zur Froͤlichkeit: ſei gu- tes Muths, und permitte Divis cetera, qui ſimul ſtravere ventos etc. Wer kann ſich nun den Er- klaͤrer ſo einfallend denken a): Permitte Divis ce- tera. Hic deſinere poterat poeta. Ad ſenſum nihil a) p. 135.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/241>, abgerufen am 23.11.2024.