Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Wäldchen.
der urbane Römer freuen, wenn er sein schalkhaftes
Selbstlob so ciceronianisch commentirt läse: Si
tuum, inquit, docte maecenas judicium accesserit,
fi tibi placuerint carmina mea, tuque me in lyri-
corum, quos Graecia admirata est, numerum re-
tuleris, tum mihi beatissimus videbor, tum n hil
ad gloriam, ad laudem, ad felicitatem meam ad-
di poterit: quemadmodum fimili sensu dicitur:
coelum digito attingere. Vide de formula Schra-
derum
in observ. ad Musaeum c. 10. p. 203. &c.

Wenn er sich so ehrbar ausgelegt sähea), wie wür-
de er lächeln? oder vielmehr, wie würde er uns
über unsre gelehrten Ausleger bedauren?

Denn nun wird der Ode ihr Geist, die leben-
dige Grazie der Anschaulichkeit genommen: der Ton
eines Liedes verfehlt, und Sinn und Leben, und Af-
fekt und Alles verfehlt. Was ist unangenehmer,
als ein musikalisches Stück in einer widersinnigen
Temperatur: und ein Gedicht, im widersinnigen
Tone zu lesen! weg mit dem Leyern! Hat Horaz ein
ernsthaftes, vollständiges, gründliches Bild von
der Mannichfaltigkeit menschlicher Charaktere geben
wollen, wie ungründlich, unvollständig, wie sehr
von einer Nebenseite, wie oft nahe am Kindischen?
hat Horaz seine Dichtergabe, und seine Dichterge-
sinnung ernsthaft und vollständig schildern wollen;
unausstehlich! kleingroß, kindisch! Ein Lorberzweig

soll
a) p. 66.
O 4

Zweites Waͤldchen.
der urbane Roͤmer freuen, wenn er ſein ſchalkhaftes
Selbſtlob ſo ciceronianiſch commentirt laͤſe: Si
tuum, inquit, docte mæcenas judicium acceſſerit,
fi tibi placuerint carmina mea, tuque me in lyri-
corum, quos Græcia admirata eſt, numerum re-
tuleris, tum mihi beatiſſimus videbor, tum n hil
ad gloriam, ad laudem, ad felicitatem meam ad-
di poterit: quemadmodum fimili ſenſu dicitur:
cœlum digito attingere. Vide de formula Schra-
derum
in obſerv. ad Muſæum c. 10. p. 203. &c.

Wenn er ſich ſo ehrbar ausgelegt ſaͤhea), wie wuͤr-
de er laͤcheln? oder vielmehr, wie wuͤrde er uns
uͤber unſre gelehrten Ausleger bedauren?

Denn nun wird der Ode ihr Geiſt, die leben-
dige Grazie der Anſchaulichkeit genommen: der Ton
eines Liedes verfehlt, und Sinn und Leben, und Af-
fekt und Alles verfehlt. Was iſt unangenehmer,
als ein muſikaliſches Stuͤck in einer widerſinnigen
Temperatur: und ein Gedicht, im widerſinnigen
Tone zu leſen! weg mit dem Leyern! Hat Horaz ein
ernſthaftes, vollſtaͤndiges, gruͤndliches Bild von
der Mannichfaltigkeit menſchlicher Charaktere geben
wollen, wie ungruͤndlich, unvollſtaͤndig, wie ſehr
von einer Nebenſeite, wie oft nahe am Kindiſchen?
hat Horaz ſeine Dichtergabe, und ſeine Dichterge-
ſinnung ernſthaft und vollſtaͤndig ſchildern wollen;
unausſtehlich! kleingroß, kindiſch! Ein Lorberzweig

ſoll
a) p. 66.
O 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0221" n="215"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zweites Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
der urbane Ro&#x0364;mer freuen, wenn er &#x017F;ein &#x017F;chalkhaftes<lb/>
Selb&#x017F;tlob &#x017F;o ciceroniani&#x017F;ch commentirt la&#x0364;&#x017F;e: <hi rendition="#aq">Si<lb/>
tuum, inquit, docte mæcenas judicium acce&#x017F;&#x017F;erit,<lb/>
fi tibi placuerint carmina mea, tuque me in lyri-<lb/>
corum, quos Græcia admirata e&#x017F;t, numerum re-<lb/>
tuleris, tum mihi beati&#x017F;&#x017F;imus videbor, tum n hil<lb/>
ad gloriam, ad laudem, ad felicitatem meam ad-<lb/>
di poterit: quemadmodum fimili &#x017F;en&#x017F;u dicitur:<lb/><hi rendition="#i">c&#x0153;lum digito attingere.</hi> Vide de formula <hi rendition="#i">Schra-<lb/>
derum</hi> in ob&#x017F;erv. ad Mu&#x017F;æum c. 10. p. 203. &amp;c.</hi><lb/>
Wenn er &#x017F;ich &#x017F;o ehrbar ausgelegt &#x017F;a&#x0364;he<note place="foot" n="a)"><hi rendition="#aq">p.</hi> 66.</note>, wie wu&#x0364;r-<lb/>
de er la&#x0364;cheln? oder vielmehr, wie wu&#x0364;rde er uns<lb/>
u&#x0364;ber un&#x017F;re gelehrten Ausleger bedauren?</p><lb/>
          <p>Denn nun wird der Ode ihr Gei&#x017F;t, die leben-<lb/>
dige Grazie der An&#x017F;chaulichkeit genommen: der Ton<lb/>
eines Liedes verfehlt, und Sinn und Leben, und Af-<lb/>
fekt und Alles verfehlt. Was i&#x017F;t unangenehmer,<lb/>
als ein mu&#x017F;ikali&#x017F;ches Stu&#x0364;ck in einer wider&#x017F;innigen<lb/>
Temperatur: und ein Gedicht, im wider&#x017F;innigen<lb/>
Tone zu le&#x017F;en! weg mit dem Leyern! Hat Horaz ein<lb/>
ern&#x017F;thaftes, voll&#x017F;ta&#x0364;ndiges, gru&#x0364;ndliches Bild von<lb/>
der Mannichfaltigkeit men&#x017F;chlicher Charaktere geben<lb/>
wollen, wie ungru&#x0364;ndlich, unvoll&#x017F;ta&#x0364;ndig, wie &#x017F;ehr<lb/>
von einer Neben&#x017F;eite, wie oft nahe am Kindi&#x017F;chen?<lb/>
hat Horaz &#x017F;eine Dichtergabe, und &#x017F;eine Dichterge-<lb/>
&#x017F;innung ern&#x017F;thaft und voll&#x017F;ta&#x0364;ndig &#x017F;childern wollen;<lb/>
unaus&#x017F;tehlich! kleingroß, kindi&#x017F;ch! Ein Lorberzweig<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O 4</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;oll</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[215/0221] Zweites Waͤldchen. der urbane Roͤmer freuen, wenn er ſein ſchalkhaftes Selbſtlob ſo ciceronianiſch commentirt laͤſe: Si tuum, inquit, docte mæcenas judicium acceſſerit, fi tibi placuerint carmina mea, tuque me in lyri- corum, quos Græcia admirata eſt, numerum re- tuleris, tum mihi beatiſſimus videbor, tum n hil ad gloriam, ad laudem, ad felicitatem meam ad- di poterit: quemadmodum fimili ſenſu dicitur: cœlum digito attingere. Vide de formula Schra- derum in obſerv. ad Muſæum c. 10. p. 203. &c. Wenn er ſich ſo ehrbar ausgelegt ſaͤhe a), wie wuͤr- de er laͤcheln? oder vielmehr, wie wuͤrde er uns uͤber unſre gelehrten Ausleger bedauren? Denn nun wird der Ode ihr Geiſt, die leben- dige Grazie der Anſchaulichkeit genommen: der Ton eines Liedes verfehlt, und Sinn und Leben, und Af- fekt und Alles verfehlt. Was iſt unangenehmer, als ein muſikaliſches Stuͤck in einer widerſinnigen Temperatur: und ein Gedicht, im widerſinnigen Tone zu leſen! weg mit dem Leyern! Hat Horaz ein ernſthaftes, vollſtaͤndiges, gruͤndliches Bild von der Mannichfaltigkeit menſchlicher Charaktere geben wollen, wie ungruͤndlich, unvollſtaͤndig, wie ſehr von einer Nebenſeite, wie oft nahe am Kindiſchen? hat Horaz ſeine Dichtergabe, und ſeine Dichterge- ſinnung ernſthaft und vollſtaͤndig ſchildern wollen; unausſtehlich! kleingroß, kindiſch! Ein Lorberzweig ſoll a) p. 66. O 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/221
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/221>, abgerufen am 01.05.2024.