Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
nisch recht verstanden; allein, das meyne ich nicht.
Virgil kann immer ein schamhaftes Gesicht gehabt,
anständig gesprochen (ore probus), immer eine
fromme, edle Seele (animo probus), und eine an-
ständige Lebensart bewiesen (caetera vita probus);
und doch schöne Knaben geliebt, und doch die Plo-
tia Hieria gekannt haben. Jch sehe nichts, das
sich aufhebe, und insonderheit zu den Zeiten Mäce-
nas, hätte aufheben dörfen. Jsts denn so wider-
sprechend, daß ein Mensch, zur sanften Wohllust
geboren, auch dies Sanfte in seiner Mine zeige,
daß das, was in der weiblichen Mine schmachtend,
ein Liebreiz der Venus wäre; in einem männlichen
Gesichte eine Art von Unschuld, von jungfräulicher
Bescheidenheit, von schamhafter Frömmigkeit wer-
de? Ohne die Physiognomien der Liebe studirt zu
haben, sehe ich beides nicht zusammenhangend, und
da also ore probus Virgilius. Muß ferner der,
der schöne Knaben liebt, denn damit aller bürgerli-
chen Ehrbarkeit, und, der sie unschuldig liebt, aller
Tugend der Seele entsagen? Und siehe! da ist ani-
mo, caetera vita probus Virgilius
-- wo ist der
ungereimte Widerspruch, insonderheit zu den Zei-
ten Mäcenas?

Es sey indessen, oder nicht; was will Hr. Kl.
mit seinem ganzen Büchlein? Ein Heldengedicht,
ein Gedicht von der Feldwirthschaft, Schäferpoe-
sien, können Virgilen immer, als Dichter, und,

wenn

Kritiſche Waͤlder.
niſch recht verſtanden; allein, das meyne ich nicht.
Virgil kann immer ein ſchamhaftes Geſicht gehabt,
anſtaͤndig geſprochen (ore probus), immer eine
fromme, edle Seele (animo probus), und eine an-
ſtaͤndige Lebensart bewieſen (cætera vita probus);
und doch ſchoͤne Knaben geliebt, und doch die Plo-
tia Hieria gekannt haben. Jch ſehe nichts, das
ſich aufhebe, und inſonderheit zu den Zeiten Maͤce-
nas, haͤtte aufheben doͤrfen. Jſts denn ſo wider-
ſprechend, daß ein Menſch, zur ſanften Wohlluſt
geboren, auch dies Sanfte in ſeiner Mine zeige,
daß das, was in der weiblichen Mine ſchmachtend,
ein Liebreiz der Venus waͤre; in einem maͤnnlichen
Geſichte eine Art von Unſchuld, von jungfraͤulicher
Beſcheidenheit, von ſchamhafter Froͤmmigkeit wer-
de? Ohne die Phyſiognomien der Liebe ſtudirt zu
haben, ſehe ich beides nicht zuſammenhangend, und
da alſo ore probus Virgilius. Muß ferner der,
der ſchoͤne Knaben liebt, denn damit aller buͤrgerli-
chen Ehrbarkeit, und, der ſie unſchuldig liebt, aller
Tugend der Seele entſagen? Und ſiehe! da iſt ani-
mo, cætera vita probus Virgilius
— wo iſt der
ungereimte Widerſpruch, inſonderheit zu den Zei-
ten Maͤcenas?

Es ſey indeſſen, oder nicht; was will Hr. Kl.
mit ſeinem ganzen Buͤchlein? Ein Heldengedicht,
ein Gedicht von der Feldwirthſchaft, Schaͤferpoe-
ſien, koͤnnen Virgilen immer, als Dichter, und,

wenn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0190" n="184"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
ni&#x017F;ch recht ver&#x017F;tanden; allein, das meyne ich nicht.<lb/>
Virgil kann immer ein &#x017F;chamhaftes Ge&#x017F;icht gehabt,<lb/>
an&#x017F;ta&#x0364;ndig ge&#x017F;prochen <hi rendition="#aq">(ore probus)</hi>, immer eine<lb/>
fromme, edle Seele <hi rendition="#aq">(animo probus)</hi>, und eine an-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndige Lebensart bewie&#x017F;en <hi rendition="#aq">(cætera vita probus);</hi><lb/>
und doch &#x017F;cho&#x0364;ne Knaben geliebt, und doch die Plo-<lb/>
tia Hieria gekannt haben. Jch &#x017F;ehe nichts, das<lb/>
&#x017F;ich aufhebe, und in&#x017F;onderheit zu den Zeiten Ma&#x0364;ce-<lb/>
nas, ha&#x0364;tte aufheben do&#x0364;rfen. J&#x017F;ts denn &#x017F;o wider-<lb/>
&#x017F;prechend, daß ein Men&#x017F;ch, zur &#x017F;anften Wohllu&#x017F;t<lb/>
geboren, auch dies Sanfte in &#x017F;einer Mine zeige,<lb/>
daß das, was in der weiblichen Mine &#x017F;chmachtend,<lb/>
ein Liebreiz der Venus wa&#x0364;re; in einem ma&#x0364;nnlichen<lb/>
Ge&#x017F;ichte eine Art von Un&#x017F;chuld, von jungfra&#x0364;ulicher<lb/>
Be&#x017F;cheidenheit, von &#x017F;chamhafter Fro&#x0364;mmigkeit wer-<lb/>
de? Ohne die Phy&#x017F;iognomien der Liebe &#x017F;tudirt zu<lb/>
haben, &#x017F;ehe ich beides nicht zu&#x017F;ammenhangend, und<lb/>
da al&#x017F;o <hi rendition="#aq">ore probus Virgilius.</hi> Muß ferner der,<lb/>
der &#x017F;cho&#x0364;ne Knaben liebt, denn damit aller bu&#x0364;rgerli-<lb/>
chen Ehrbarkeit, und, der &#x017F;ie un&#x017F;chuldig liebt, aller<lb/>
Tugend der Seele ent&#x017F;agen? Und &#x017F;iehe! da i&#x017F;t <hi rendition="#aq">ani-<lb/>
mo, cætera vita probus Virgilius</hi> &#x2014; wo i&#x017F;t der<lb/>
ungereimte Wider&#x017F;pruch, in&#x017F;onderheit zu den Zei-<lb/>
ten Ma&#x0364;cenas?</p><lb/>
          <p>Es &#x017F;ey inde&#x017F;&#x017F;en, oder nicht; was will Hr. Kl.<lb/>
mit &#x017F;einem ganzen Bu&#x0364;chlein? Ein Heldengedicht,<lb/>
ein Gedicht von der Feldwirth&#x017F;chaft, Scha&#x0364;ferpoe-<lb/>
&#x017F;ien, ko&#x0364;nnen Virgilen immer, als Dichter, und,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wenn</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[184/0190] Kritiſche Waͤlder. niſch recht verſtanden; allein, das meyne ich nicht. Virgil kann immer ein ſchamhaftes Geſicht gehabt, anſtaͤndig geſprochen (ore probus), immer eine fromme, edle Seele (animo probus), und eine an- ſtaͤndige Lebensart bewieſen (cætera vita probus); und doch ſchoͤne Knaben geliebt, und doch die Plo- tia Hieria gekannt haben. Jch ſehe nichts, das ſich aufhebe, und inſonderheit zu den Zeiten Maͤce- nas, haͤtte aufheben doͤrfen. Jſts denn ſo wider- ſprechend, daß ein Menſch, zur ſanften Wohlluſt geboren, auch dies Sanfte in ſeiner Mine zeige, daß das, was in der weiblichen Mine ſchmachtend, ein Liebreiz der Venus waͤre; in einem maͤnnlichen Geſichte eine Art von Unſchuld, von jungfraͤulicher Beſcheidenheit, von ſchamhafter Froͤmmigkeit wer- de? Ohne die Phyſiognomien der Liebe ſtudirt zu haben, ſehe ich beides nicht zuſammenhangend, und da alſo ore probus Virgilius. Muß ferner der, der ſchoͤne Knaben liebt, denn damit aller buͤrgerli- chen Ehrbarkeit, und, der ſie unſchuldig liebt, aller Tugend der Seele entſagen? Und ſiehe! da iſt ani- mo, cætera vita probus Virgilius — wo iſt der ungereimte Widerſpruch, inſonderheit zu den Zei- ten Maͤcenas? Es ſey indeſſen, oder nicht; was will Hr. Kl. mit ſeinem ganzen Buͤchlein? Ein Heldengedicht, ein Gedicht von der Feldwirthſchaft, Schaͤferpoe- ſien, koͤnnen Virgilen immer, als Dichter, und, wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/190
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/190>, abgerufen am 22.11.2024.