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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Kritische Wälder.

nicht unschuldig züchtig nennen dörfen, da ganz
Griechenland sie so siehet. So wenig ich diese Frei-
heiten zum Privilegium unsrer Zeit, statt einer ur-
alten deutschen Bescheidenheit, haben will; so wenig
will ichs den Griechen, in der Morgenröthe ihrer
Sittlichkeit angestritten haben. Jch will vielmehr
mit der Unschuld, mit der Plato seinen Greisen er-
laubt, die Spiele der muntern Jugend anzusehen,
aus meinem greisen Zeitalter hinaustreten, und die
Freuden griechischer Jugend, und die Natursprache
griechischer Dichter, und nackte Schöne der grie-
chischen Kunst, und die Philosophie der Liebe bei
einem Sokrates so betrachten, als wenn ich mich
selbst in die muntere Unschuld dieser Weltjugend
zurücksetzen, und zu einem griechischen Gefühle zu-
rück verjünget würde - dann kann ich Griechen
lesen.

Ein dritter Punkt griechischer Freiheit kann ei-
gentlich nicht Schamhaftigkeit heißen, er betrifft
den Anstand der Reinigkeit, der Zierde, der Würde,
und wer kennet da nicht die Taubenreinheit der Grie-
chen? Mich freuets, wie ernsthaft mein Autor über
den Unterschied der Wortwürde zwischen onthos und
kopros, zwischen kopros und konis disputirt a): wie
offenherzig er eine Stelle Homers mit seinem Kopf-
schütteln begleitet: me offendit fere, vt libere sen-
tentiam dicam, haec imago
-- wie er bei solcher

Klei-
a) p. 269. 270.
Kritiſche Waͤlder.

nicht unſchuldig zuͤchtig nennen doͤrfen, da ganz
Griechenland ſie ſo ſiehet. So wenig ich dieſe Frei-
heiten zum Privilegium unſrer Zeit, ſtatt einer ur-
alten deutſchen Beſcheidenheit, haben will; ſo wenig
will ichs den Griechen, in der Morgenroͤthe ihrer
Sittlichkeit angeſtritten haben. Jch will vielmehr
mit der Unſchuld, mit der Plato ſeinen Greiſen er-
laubt, die Spiele der muntern Jugend anzuſehen,
aus meinem greiſen Zeitalter hinaustreten, und die
Freuden griechiſcher Jugend, und die Naturſprache
griechiſcher Dichter, und nackte Schoͤne der grie-
chiſchen Kunſt, und die Philoſophie der Liebe bei
einem Sokrates ſo betrachten, als wenn ich mich
ſelbſt in die muntere Unſchuld dieſer Weltjugend
zuruͤckſetzen, und zu einem griechiſchen Gefuͤhle zu-
ruͤck verjuͤnget wuͤrde – dann kann ich Griechen
leſen.

Ein dritter Punkt griechiſcher Freiheit kann ei-
gentlich nicht Schamhaftigkeit heißen, er betrifft
den Anſtand der Reinigkeit, der Zierde, der Wuͤrde,
und wer kennet da nicht die Taubenreinheit der Grie-
chen? Mich freuets, wie ernſthaft mein Autor uͤber
den Unterſchied der Wortwuͤrde zwiſchen ονϑος und
κοπρος, zwiſchen κοπρος und κονις diſputirt a): wie
offenherzig er eine Stelle Homers mit ſeinem Kopf-
ſchuͤtteln begleitet: me offendit fere, vt libere ſen-
tentiam dicam, haec imago
— wie er bei ſolcher

Klei-
a) p. 269. 270.
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[164/0170] Kritiſche Waͤlder. nicht unſchuldig zuͤchtig nennen doͤrfen, da ganz Griechenland ſie ſo ſiehet. So wenig ich dieſe Frei- heiten zum Privilegium unſrer Zeit, ſtatt einer ur- alten deutſchen Beſcheidenheit, haben will; ſo wenig will ichs den Griechen, in der Morgenroͤthe ihrer Sittlichkeit angeſtritten haben. Jch will vielmehr mit der Unſchuld, mit der Plato ſeinen Greiſen er- laubt, die Spiele der muntern Jugend anzuſehen, aus meinem greiſen Zeitalter hinaustreten, und die Freuden griechiſcher Jugend, und die Naturſprache griechiſcher Dichter, und nackte Schoͤne der grie- chiſchen Kunſt, und die Philoſophie der Liebe bei einem Sokrates ſo betrachten, als wenn ich mich ſelbſt in die muntere Unſchuld dieſer Weltjugend zuruͤckſetzen, und zu einem griechiſchen Gefuͤhle zu- ruͤck verjuͤnget wuͤrde – dann kann ich Griechen leſen. Ein dritter Punkt griechiſcher Freiheit kann ei- gentlich nicht Schamhaftigkeit heißen, er betrifft den Anſtand der Reinigkeit, der Zierde, der Wuͤrde, und wer kennet da nicht die Taubenreinheit der Grie- chen? Mich freuets, wie ernſthaft mein Autor uͤber den Unterſchied der Wortwuͤrde zwiſchen ονϑος und κοπρος, zwiſchen κοπρος und κονις diſputirt a): wie offenherzig er eine Stelle Homers mit ſeinem Kopf- ſchuͤtteln begleitet: me offendit fere, vt libere ſen- tentiam dicam, haec imago — wie er bei ſolcher Klei- a) p. 269. 270.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/170>, abgerufen am 03.05.2024.