nicht unschuldig züchtig nennen dörfen, da ganz Griechenland sie so siehet. So wenig ich diese Frei- heiten zum Privilegium unsrer Zeit, statt einer ur- alten deutschen Bescheidenheit, haben will; so wenig will ichs den Griechen, in der Morgenröthe ihrer Sittlichkeit angestritten haben. Jch will vielmehr mit der Unschuld, mit der Plato seinen Greisen er- laubt, die Spiele der muntern Jugend anzusehen, aus meinem greisen Zeitalter hinaustreten, und die Freuden griechischer Jugend, und die Natursprache griechischer Dichter, und nackte Schöne der grie- chischen Kunst, und die Philosophie der Liebe bei einem Sokrates so betrachten, als wenn ich mich selbst in die muntere Unschuld dieser Weltjugend zurücksetzen, und zu einem griechischen Gefühle zu- rück verjünget würde - dann kann ich Griechen lesen.
Ein dritter Punkt griechischer Freiheit kann ei- gentlich nicht Schamhaftigkeit heißen, er betrifft den Anstand der Reinigkeit, der Zierde, der Würde, und wer kennet da nicht die Taubenreinheit der Grie- chen? Mich freuets, wie ernsthaft mein Autor über den Unterschied der Wortwürde zwischen onthos und kopros, zwischen kopros und konis disputirt a): wie offenherzig er eine Stelle Homers mit seinem Kopf- schütteln begleitet: me offendit fere, vt libere sen- tentiam dicam, haec imago -- wie er bei solcher
Klei-
a)p. 269. 270.
Kritiſche Waͤlder.
nicht unſchuldig zuͤchtig nennen doͤrfen, da ganz Griechenland ſie ſo ſiehet. So wenig ich dieſe Frei- heiten zum Privilegium unſrer Zeit, ſtatt einer ur- alten deutſchen Beſcheidenheit, haben will; ſo wenig will ichs den Griechen, in der Morgenroͤthe ihrer Sittlichkeit angeſtritten haben. Jch will vielmehr mit der Unſchuld, mit der Plato ſeinen Greiſen er- laubt, die Spiele der muntern Jugend anzuſehen, aus meinem greiſen Zeitalter hinaustreten, und die Freuden griechiſcher Jugend, und die Naturſprache griechiſcher Dichter, und nackte Schoͤne der grie- chiſchen Kunſt, und die Philoſophie der Liebe bei einem Sokrates ſo betrachten, als wenn ich mich ſelbſt in die muntere Unſchuld dieſer Weltjugend zuruͤckſetzen, und zu einem griechiſchen Gefuͤhle zu- ruͤck verjuͤnget wuͤrde – dann kann ich Griechen leſen.
Ein dritter Punkt griechiſcher Freiheit kann ei- gentlich nicht Schamhaftigkeit heißen, er betrifft den Anſtand der Reinigkeit, der Zierde, der Wuͤrde, und wer kennet da nicht die Taubenreinheit der Grie- chen? Mich freuets, wie ernſthaft mein Autor uͤber den Unterſchied der Wortwuͤrde zwiſchen ονϑος und κοπρος, zwiſchen κοπρος und κονις diſputirt a): wie offenherzig er eine Stelle Homers mit ſeinem Kopf- ſchuͤtteln begleitet: me offendit fere, vt libere ſen- tentiam dicam, haec imago — wie er bei ſolcher
Klei-
a)p. 269. 270.
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Kritiſche Waͤlder.
nicht unſchuldig zuͤchtig nennen doͤrfen, da ganz
Griechenland ſie ſo ſiehet. So wenig ich dieſe Frei-
heiten zum Privilegium unſrer Zeit, ſtatt einer ur-
alten deutſchen Beſcheidenheit, haben will; ſo wenig
will ichs den Griechen, in der Morgenroͤthe ihrer
Sittlichkeit angeſtritten haben. Jch will vielmehr
mit der Unſchuld, mit der Plato ſeinen Greiſen er-
laubt, die Spiele der muntern Jugend anzuſehen,
aus meinem greiſen Zeitalter hinaustreten, und die
Freuden griechiſcher Jugend, und die Naturſprache
griechiſcher Dichter, und nackte Schoͤne der grie-
chiſchen Kunſt, und die Philoſophie der Liebe bei
einem Sokrates ſo betrachten, als wenn ich mich
ſelbſt in die muntere Unſchuld dieſer Weltjugend
zuruͤckſetzen, und zu einem griechiſchen Gefuͤhle zu-
ruͤck verjuͤnget wuͤrde – dann kann ich Griechen
leſen.
Ein dritter Punkt griechiſcher Freiheit kann ei-
gentlich nicht Schamhaftigkeit heißen, er betrifft
den Anſtand der Reinigkeit, der Zierde, der Wuͤrde,
und wer kennet da nicht die Taubenreinheit der Grie-
chen? Mich freuets, wie ernſthaft mein Autor uͤber
den Unterſchied der Wortwuͤrde zwiſchen ονϑος und
κοπρος, zwiſchen κοπρος und κονις diſputirt a): wie
offenherzig er eine Stelle Homers mit ſeinem Kopf-
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tentiam dicam, haec imago — wie er bei ſolcher
Klei-
a) p. 269. 270.
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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/170>, abgerufen am 16.02.2025.
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