Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Zweites Wäldchen. nach, selbst ja nordliche Europäer: und sie sind doch,dem andern Theile nach, noch keine Griechen an Natur: und sie wohnen doch nur unter zertrümmer- ten Resten griechischer Kunst: und sie haben doch eine Religion, die so sehr die Verhüllung liebet: und sie sind schon in einer Lebensart, die schon vom bürgerlichen Wohlstande, und der Politesse gebildet worden -- Wie? und die Griechen, zum Ge- fühle der Wohllust gebohren, von Jugend auf unter den Schönheiten der offnen Natur erwachsen, zur Lust und Freude bei ihren Spielen eingeweihet, und noch nicht zum sclavischen Puppenwohlstande ver- dammt, sie sollten nicht eine eigne Sittlichkeit des Nackenden haben dörfen? sie wollten wir verdam- men, wenn sie nicht nach Nonnentrachten ihrer Zeit schildern? sie sollen sich nicht der Jugend der Welt, der Unschuld ihres Zeitalters erfreuen dörfen, von unsern züchtigen Verhüllungen frei zu seyn? sie sollen ver- schleyerte persianische Figuren, Chineserschönheiten mit verhüllten Fingerspitzen werden? und ihre Dich- ter eine Briseis mit schönen Knieen, eine Sparta- nerinn mit schönen Hüften, eine Venus Anadyo- mene, einen Bacchus mit schönem Bauche, einen Bathyllus, wie ihn Anakreon sehen will:
nicht L 2
Zweites Waͤldchen. nach, ſelbſt ja nordliche Europaͤer: und ſie ſind doch,dem andern Theile nach, noch keine Griechen an Natur: und ſie wohnen doch nur unter zertruͤmmer- ten Reſten griechiſcher Kunſt: und ſie haben doch eine Religion, die ſo ſehr die Verhuͤllung liebet: und ſie ſind ſchon in einer Lebensart, die ſchon vom buͤrgerlichen Wohlſtande, und der Politeſſe gebildet worden — Wie? und die Griechen, zum Ge- fuͤhle der Wohlluſt gebohren, von Jugend auf unter den Schoͤnheiten der offnen Natur erwachſen, zur Luſt und Freude bei ihren Spielen eingeweihet, und noch nicht zum ſclaviſchen Puppenwohlſtande ver- dammt, ſie ſollten nicht eine eigne Sittlichkeit des Nackenden haben doͤrfen? ſie wollten wir verdam- men, wenn ſie nicht nach Nonnentrachten ihrer Zeit ſchildern? ſie ſollen ſich nicht der Jugend der Welt, der Unſchuld ihres Zeitalters erfreuen doͤrfen, von unſern zuͤchtigen Verhuͤllungen frei zu ſeyn? ſie ſollen ver- ſchleyerte perſianiſche Figuren, Chineſerſchoͤnheiten mit verhuͤllten Fingerſpitzen werden? und ihre Dich- ter eine Briſeis mit ſchoͤnen Knieen, eine Sparta- nerinn mit ſchoͤnen Huͤften, eine Venus Anadyo- mene, einen Bacchus mit ſchoͤnem Bauche, einen Bathyllus, wie ihn Anakreon ſehen will:
nicht L 2
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0169" n="163"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zweites Waͤldchen.</hi></fw><lb/> nach, ſelbſt ja nordliche Europaͤer: und ſie ſind doch,<lb/> dem andern Theile nach, noch keine Griechen an<lb/> Natur: und ſie wohnen doch nur unter zertruͤmmer-<lb/> ten Reſten griechiſcher Kunſt: und ſie haben doch<lb/> eine Religion, die ſo ſehr die Verhuͤllung liebet:<lb/> und ſie ſind ſchon in einer Lebensart, die ſchon vom<lb/> buͤrgerlichen Wohlſtande, und der Politeſſe gebildet<lb/> worden — Wie? und die Griechen, zum Ge-<lb/> fuͤhle der Wohlluſt gebohren, von Jugend auf unter<lb/> den Schoͤnheiten der offnen Natur erwachſen, zur<lb/> Luſt und Freude bei ihren Spielen eingeweihet, und<lb/> noch nicht zum ſclaviſchen Puppenwohlſtande ver-<lb/> dammt, ſie ſollten nicht eine eigne Sittlichkeit des<lb/> Nackenden haben doͤrfen? ſie wollten wir verdam-<lb/> men, wenn ſie nicht nach Nonnentrachten ihrer Zeit<lb/> ſchildern? ſie ſollen ſich nicht der Jugend der Welt, der<lb/> Unſchuld ihres Zeitalters erfreuen doͤrfen, von unſern<lb/> zuͤchtigen Verhuͤllungen frei zu ſeyn? ſie ſollen ver-<lb/> ſchleyerte perſianiſche Figuren, Chineſerſchoͤnheiten<lb/> mit verhuͤllten Fingerſpitzen werden? und ihre Dich-<lb/> ter eine Briſeis mit ſchoͤnen Knieen, eine Sparta-<lb/> nerinn mit ſchoͤnen Huͤften, eine Venus Anadyo-<lb/> mene, einen Bacchus mit ſchoͤnem Bauche, einen<lb/> Bathyllus, wie ihn Anakreon ſehen will:</p><lb/> <cit> <quote> <lg type="poem"> <l>Ἁπαλων δ’ ὑπερϑε μηρων</l><lb/> <l>Μηρων το πυρ εχοντων</l><lb/> <l>Αφελη ποιησον αιδω</l><lb/> <l>Παφιην ϑελουσαν ηδη.</l> </lg> </quote> </cit><lb/> <fw place="bottom" type="sig">L 2</fw> <fw place="bottom" type="catch">nicht</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [163/0169]
Zweites Waͤldchen.
nach, ſelbſt ja nordliche Europaͤer: und ſie ſind doch,
dem andern Theile nach, noch keine Griechen an
Natur: und ſie wohnen doch nur unter zertruͤmmer-
ten Reſten griechiſcher Kunſt: und ſie haben doch
eine Religion, die ſo ſehr die Verhuͤllung liebet:
und ſie ſind ſchon in einer Lebensart, die ſchon vom
buͤrgerlichen Wohlſtande, und der Politeſſe gebildet
worden — Wie? und die Griechen, zum Ge-
fuͤhle der Wohlluſt gebohren, von Jugend auf unter
den Schoͤnheiten der offnen Natur erwachſen, zur
Luſt und Freude bei ihren Spielen eingeweihet, und
noch nicht zum ſclaviſchen Puppenwohlſtande ver-
dammt, ſie ſollten nicht eine eigne Sittlichkeit des
Nackenden haben doͤrfen? ſie wollten wir verdam-
men, wenn ſie nicht nach Nonnentrachten ihrer Zeit
ſchildern? ſie ſollen ſich nicht der Jugend der Welt, der
Unſchuld ihres Zeitalters erfreuen doͤrfen, von unſern
zuͤchtigen Verhuͤllungen frei zu ſeyn? ſie ſollen ver-
ſchleyerte perſianiſche Figuren, Chineſerſchoͤnheiten
mit verhuͤllten Fingerſpitzen werden? und ihre Dich-
ter eine Briſeis mit ſchoͤnen Knieen, eine Sparta-
nerinn mit ſchoͤnen Huͤften, eine Venus Anadyo-
mene, einen Bacchus mit ſchoͤnem Bauche, einen
Bathyllus, wie ihn Anakreon ſehen will:
Ἁπαλων δ’ ὑπερϑε μηρων
Μηρων το πυρ εχοντων
Αφελη ποιησον αιδω
Παφιην ϑελουσαν ηδη.
nicht
L 2
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |