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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Kritische Wälder.
kennet, wird sie verdammen? Einem Lehrer der
Kunst müssen Worte erlaubt seyn, die keinem an-
dern, und einem Griechen, die keinem Deutschen er-
laubt sind. Nicht nur, daß die herrlichsten Denk-
maale der Kunst vor ihren Augen nackend, blos stan-
den, und ihre Kunst überhaupt mehr das schöne
Nackte, als das züchtig Verhüllte liebte: auch in
der Natur selbst bildete sich hier eine Art von eigner
nationalgriechischer Schamhaftigkeit des Auges,
die niemanden fremde dünken kann, als wer unter
ihnen noch kein Grieche geworden. Nackte Ringer,
nackte Kämpfer, nackte olympische Sieger, nackte
badende Schönen, nackte Tänze, nackte Spiele,
nackte Feste, halbnackte Trachten -- und ihre
Dichtkunst sollte einpressende Klosterlumpen dulden?
Jhre besten Schriftsteller sollten eine Nonnenehr-
barkeit sich einander eingestehen, die das Auge des
ganzen Griechenlandes, und die Zunge der Aelte-
sten, Ehrwürdigsten und Feinsten des Publikum
sich nicht eingestand? die sich selbst die Philosophen
in ihren Sittenstunden nicht eingestanden? Jn ei-
nem Punkte, wo es so sehr auf Gewohnheit der
Augen
ankommt, sollte man, denke ich, eben diese
Augengewohnheit doch wohl bei einem Volke zu
Rathe ziehen, das sich in ihr so sehr auszeichnet.
Noch jetzt ist das Gefühl der Jtaliener über diesen
Punkt, von dem Gefühle nordlicher Europäer, sehr
verschieden: und sie sind doch, dem einen Theile

nach

Kritiſche Waͤlder.
kennet, wird ſie verdammen? Einem Lehrer der
Kunſt muͤſſen Worte erlaubt ſeyn, die keinem an-
dern, und einem Griechen, die keinem Deutſchen er-
laubt ſind. Nicht nur, daß die herrlichſten Denk-
maale der Kunſt vor ihren Augen nackend, blos ſtan-
den, und ihre Kunſt uͤberhaupt mehr das ſchoͤne
Nackte, als das zuͤchtig Verhuͤllte liebte: auch in
der Natur ſelbſt bildete ſich hier eine Art von eigner
nationalgriechiſcher Schamhaftigkeit des Auges,
die niemanden fremde duͤnken kann, als wer unter
ihnen noch kein Grieche geworden. Nackte Ringer,
nackte Kaͤmpfer, nackte olympiſche Sieger, nackte
badende Schoͤnen, nackte Taͤnze, nackte Spiele,
nackte Feſte, halbnackte Trachten — und ihre
Dichtkunſt ſollte einpreſſende Kloſterlumpen dulden?
Jhre beſten Schriftſteller ſollten eine Nonnenehr-
barkeit ſich einander eingeſtehen, die das Auge des
ganzen Griechenlandes, und die Zunge der Aelte-
ſten, Ehrwuͤrdigſten und Feinſten des Publikum
ſich nicht eingeſtand? die ſich ſelbſt die Philoſophen
in ihren Sittenſtunden nicht eingeſtanden? Jn ei-
nem Punkte, wo es ſo ſehr auf Gewohnheit der
Augen
ankommt, ſollte man, denke ich, eben dieſe
Augengewohnheit doch wohl bei einem Volke zu
Rathe ziehen, das ſich in ihr ſo ſehr auszeichnet.
Noch jetzt iſt das Gefuͤhl der Jtaliener uͤber dieſen
Punkt, von dem Gefuͤhle nordlicher Europaͤer, ſehr
verſchieden: und ſie ſind doch, dem einen Theile

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[162/0168] Kritiſche Waͤlder. kennet, wird ſie verdammen? Einem Lehrer der Kunſt muͤſſen Worte erlaubt ſeyn, die keinem an- dern, und einem Griechen, die keinem Deutſchen er- laubt ſind. Nicht nur, daß die herrlichſten Denk- maale der Kunſt vor ihren Augen nackend, blos ſtan- den, und ihre Kunſt uͤberhaupt mehr das ſchoͤne Nackte, als das zuͤchtig Verhuͤllte liebte: auch in der Natur ſelbſt bildete ſich hier eine Art von eigner nationalgriechiſcher Schamhaftigkeit des Auges, die niemanden fremde duͤnken kann, als wer unter ihnen noch kein Grieche geworden. Nackte Ringer, nackte Kaͤmpfer, nackte olympiſche Sieger, nackte badende Schoͤnen, nackte Taͤnze, nackte Spiele, nackte Feſte, halbnackte Trachten — und ihre Dichtkunſt ſollte einpreſſende Kloſterlumpen dulden? Jhre beſten Schriftſteller ſollten eine Nonnenehr- barkeit ſich einander eingeſtehen, die das Auge des ganzen Griechenlandes, und die Zunge der Aelte- ſten, Ehrwuͤrdigſten und Feinſten des Publikum ſich nicht eingeſtand? die ſich ſelbſt die Philoſophen in ihren Sittenſtunden nicht eingeſtanden? Jn ei- nem Punkte, wo es ſo ſehr auf Gewohnheit der Augen ankommt, ſollte man, denke ich, eben dieſe Augengewohnheit doch wohl bei einem Volke zu Rathe ziehen, das ſich in ihr ſo ſehr auszeichnet. Noch jetzt iſt das Gefuͤhl der Jtaliener uͤber dieſen Punkt, von dem Gefuͤhle nordlicher Europaͤer, ſehr verſchieden: und ſie ſind doch, dem einen Theile nach

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/168>, abgerufen am 22.11.2024.