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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Zweites Wäldchen.
fromme Ehrbarkeitspedanten unsrer Zeit gegen mich
haben würde, die mit dem ehrbaren Schriftsteller, über
den ich schreibe, oft gnug ausruffen dörften a) atque
ctiam fateor ipse, mihi non omnino probari hune
locum, quem reliquae epici carminis maiestati de-
trahere puto
(der gewöhnliche Lieblingstadel un-
sers Verfassers) aber vielleicht auch, daß die Ken-
ner der Griechen insonderheit in ihren poetischen Zei-
ten auf meiner Seite seyn dörsten: atque etiam fa-
teor contra, mihi, tanquam Graeco, & Graece
sentienti, omnino probari hunc locum, quem
molli Graecorum de venustate iudicio optime re-
spondere puto.
Und in der That, wenn die fei-
ne ionische Wohllust nicht dem poetischen Geiste der
Griechen Charakter gegeben hätte: wie viel schöne
Kinder der Poesie von Homer und Anakreon, und
Sappho an, bis auf Theokrit und Moschus zu,
würden Embryonen der idealischen Wohllust ge-
blieben seyn! Und wer, nach dem Klosterzwange unsrer
Zeit, eine beurtheilen, uns eine rauben will, der raube
uns lieber die Mutter mit allen Kindern! alle üppige
Bilder griechischer Wohllust! -- Das ist ein würdi-
ger, züchtiger, schamhafter Kunstrichter unsrer Zeit.

Der zweite Punkt griechischer Freiheit betrifft
das Nackende ihrer Bilder, und so auch ihrer Aus-
drücke des Nackenden in der Sprache. Wer ken-
net hier nicht die griechische Freiheit? allein, wer sie

ken-
a) p. 264. de verecund. Virgil.
L

Zweites Waͤldchen.
fromme Ehrbarkeitspedanten unſrer Zeit gegen mich
haben wuͤrde, die mit dem ehrbaren Schriftſteller, uͤber
den ich ſchreibe, oft gnug ausruffen doͤrften a) atque
ctiam fateor ipſe, mihi non omnino probari hune
locum, quem reliquae epici carminis maieſtati de-
trahere puto
(der gewoͤhnliche Lieblingstadel un-
ſers Verfaſſers) aber vielleicht auch, daß die Ken-
ner der Griechen inſonderheit in ihren poetiſchen Zei-
ten auf meiner Seite ſeyn doͤrſten: atque etiam fa-
teor contra, mihi, tanquam Graeco, & Graece
ſentienti, omnino probari hunc locum, quem
molli Graecorum de venuſtate iudicio optime re-
ſpondere puto.
Und in der That, wenn die fei-
ne ioniſche Wohlluſt nicht dem poetiſchen Geiſte der
Griechen Charakter gegeben haͤtte: wie viel ſchoͤne
Kinder der Poeſie von Homer und Anakreon, und
Sappho an, bis auf Theokrit und Moſchus zu,
wuͤrden Embryonen der idealiſchen Wohlluſt ge-
blieben ſeyn! Und wer, nach dem Kloſterzwange unſrer
Zeit, eine beurtheilen, uns eine rauben will, der raube
uns lieber die Mutter mit allen Kindern! alle uͤppige
Bilder griechiſcher Wohlluſt! — Das iſt ein wuͤrdi-
ger, zuͤchtiger, ſchamhafter Kunſtrichter unſrer Zeit.

Der zweite Punkt griechiſcher Freiheit betrifft
das Nackende ihrer Bilder, und ſo auch ihrer Aus-
druͤcke des Nackenden in der Sprache. Wer ken-
net hier nicht die griechiſche Freiheit? allein, wer ſie

ken-
a) p. 264. de verecund. Virgil.
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[161/0167] Zweites Waͤldchen. fromme Ehrbarkeitspedanten unſrer Zeit gegen mich haben wuͤrde, die mit dem ehrbaren Schriftſteller, uͤber den ich ſchreibe, oft gnug ausruffen doͤrften a) atque ctiam fateor ipſe, mihi non omnino probari hune locum, quem reliquae epici carminis maieſtati de- trahere puto (der gewoͤhnliche Lieblingstadel un- ſers Verfaſſers) aber vielleicht auch, daß die Ken- ner der Griechen inſonderheit in ihren poetiſchen Zei- ten auf meiner Seite ſeyn doͤrſten: atque etiam fa- teor contra, mihi, tanquam Graeco, & Graece ſentienti, omnino probari hunc locum, quem molli Graecorum de venuſtate iudicio optime re- ſpondere puto. Und in der That, wenn die fei- ne ioniſche Wohlluſt nicht dem poetiſchen Geiſte der Griechen Charakter gegeben haͤtte: wie viel ſchoͤne Kinder der Poeſie von Homer und Anakreon, und Sappho an, bis auf Theokrit und Moſchus zu, wuͤrden Embryonen der idealiſchen Wohlluſt ge- blieben ſeyn! Und wer, nach dem Kloſterzwange unſrer Zeit, eine beurtheilen, uns eine rauben will, der raube uns lieber die Mutter mit allen Kindern! alle uͤppige Bilder griechiſcher Wohlluſt! — Das iſt ein wuͤrdi- ger, zuͤchtiger, ſchamhafter Kunſtrichter unſrer Zeit. Der zweite Punkt griechiſcher Freiheit betrifft das Nackende ihrer Bilder, und ſo auch ihrer Aus- druͤcke des Nackenden in der Sprache. Wer ken- net hier nicht die griechiſche Freiheit? allein, wer ſie ken- a) p. 264. de verecund. Virgil. L

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/167>, abgerufen am 25.11.2024.