Wenn Hagedorn der Freude singet, bleibet er freilich nicht mit jedem Zuge der Allegorie treu, und wollte es auch nicht bleiben. Seine Freude ist ihm eine Göttinn, der das Vergnügen gefällt, nicht ein allegorisches Gerippe derselben. Er kann sich also denken, daß sein Lied "dieselbe vergrößere, "daß sie das Glück der Welt, die Kraft der Seele, "das halbe Leben sey; daß sie die Vernunft erheite- "re, u. s. w." Prädikate, die der Freude über- haupt zukommen, nicht aber dem personifiirten Be- griffe derselben, der Freudengöttinn, der Hagedorn frohe Empfindungen opfert, nicht dem allegorischen Wortgemälde -- --
Ramler hat sein Lied in ein solches Gemälde verändern wollen. Er löschte die Striche aus, die bei der allegorischen Figur nicht Statt fanden; er that neue hinzu, die sie sichtbarer machten. Er gab der Freude Kinder, er machte sie selbst zum Kinde des Himmels, er verwandelte die Kenner, person- neller in Dichter der Freude; er machte lieber eine lange Parenthese, ehe er diese mit einer andern alle- gorischen Person, dem Glücke, hätte vermischen lassen; er gebot ihr die Gesellschaft unvernünstiger Bacchan- ten zu fliehen; -- kurz! er blieb, in jedem Zuge, dem Bilde einer allegorischen Person treu. Hat er das Lied verbessert? Als ein allegorisches Poem, frei- lich; aber, als ein Gesang der Empfindungen, der Freudengöttinn gesungen, ohne dieselbe ins Stamm-
und
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Zweites Waͤldchen.
Wenn Hagedorn der Freude ſinget, bleibet er freilich nicht mit jedem Zuge der Allegorie treu, und wollte es auch nicht bleiben. Seine Freude iſt ihm eine Goͤttinn, der das Vergnuͤgen gefaͤllt, nicht ein allegoriſches Gerippe derſelben. Er kann ſich alſo denken, daß ſein Lied „dieſelbe vergroͤßere, „daß ſie das Gluͤck der Welt, die Kraft der Seele, „das halbe Leben ſey; daß ſie die Vernunft erheite- „re, u. ſ. w.„ Praͤdikate, die der Freude uͤber- haupt zukommen, nicht aber dem perſonifiirten Be- griffe derſelben, der Freudengoͤttinn, der Hagedorn frohe Empfindungen opfert, nicht dem allegoriſchen Wortgemaͤlde — —
Ramler hat ſein Lied in ein ſolches Gemaͤlde veraͤndern wollen. Er loͤſchte die Striche aus, die bei der allegoriſchen Figur nicht Statt fanden; er that neue hinzu, die ſie ſichtbarer machten. Er gab der Freude Kinder, er machte ſie ſelbſt zum Kinde des Himmels, er verwandelte die Kenner, perſon- neller in Dichter der Freude; er machte lieber eine lange Parentheſe, ehe er dieſe mit einer andern alle- goriſchen Perſon, dem Gluͤcke, haͤtte vermiſchen laſſen; er gebot ihr die Geſellſchaft unvernuͤnſtiger Bacchan- ten zu fliehen; — kurz! er blieb, in jedem Zuge, dem Bilde einer allegoriſchen Perſon treu. Hat er das Lied verbeſſert? Als ein allegoriſches Poem, frei- lich; aber, als ein Geſang der Empfindungen, der Freudengoͤttinn geſungen, ohne dieſelbe ins Stamm-
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Zweites Waͤldchen.
Wenn Hagedorn der Freude ſinget, bleibet er
freilich nicht mit jedem Zuge der Allegorie treu,
und wollte es auch nicht bleiben. Seine Freude
iſt ihm eine Goͤttinn, der das Vergnuͤgen gefaͤllt,
nicht ein allegoriſches Gerippe derſelben. Er kann
ſich alſo denken, daß ſein Lied „dieſelbe vergroͤßere,
„daß ſie das Gluͤck der Welt, die Kraft der Seele,
„das halbe Leben ſey; daß ſie die Vernunft erheite-
„re, u. ſ. w.„ Praͤdikate, die der Freude uͤber-
haupt zukommen, nicht aber dem perſonifiirten Be-
griffe derſelben, der Freudengoͤttinn, der Hagedorn
frohe Empfindungen opfert, nicht dem allegoriſchen
Wortgemaͤlde — —
Ramler hat ſein Lied in ein ſolches Gemaͤlde
veraͤndern wollen. Er loͤſchte die Striche aus, die
bei der allegoriſchen Figur nicht Statt fanden; er
that neue hinzu, die ſie ſichtbarer machten. Er gab
der Freude Kinder, er machte ſie ſelbſt zum Kinde
des Himmels, er verwandelte die Kenner, perſon-
neller in Dichter der Freude; er machte lieber eine
lange Parentheſe, ehe er dieſe mit einer andern alle-
goriſchen Perſon, dem Gluͤcke, haͤtte vermiſchen laſſen;
er gebot ihr die Geſellſchaft unvernuͤnſtiger Bacchan-
ten zu fliehen; — kurz! er blieb, in jedem Zuge,
dem Bilde einer allegoriſchen Perſon treu. Hat er
das Lied verbeſſert? Als ein allegoriſches Poem, frei-
lich; aber, als ein Geſang der Empfindungen, der
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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/121>, abgerufen am 16.02.2025.
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