Zuge neu entkleiden; warum ließ mich, da es hier bloß auf Wahrheit und Mühe ankommt, der Dich- ter die Wahrheit nicht nackt sehen? ohne Mühe der Entkleidung? ohne langes Gesuch? Mitten im al- legorischen Traume unsrer Wochenblätter schlafe ich ein, und vielleicht viele Leser mit mir.
Nichts bleibt übrig, als kleine Gedichte, oder Einfälle in Gedichten: Bilder, Gleichnisse, Epi- gramme, Lieder, Oden -- "Bilder und Gleichnis- "se?" wohl! und die alte Mythologie ist voll schö- ner Allegorien! Epigramme? Ein Epigramm ist ein Bon-Mot in der Dichtkunst, es gefalle durch seinen Stachel, oder seine außerordentliche Simplicität. Aber Lieder? Oden? Selten können lange durch- aus allegorische Lieder und Oden gefallen! Jch danke es Uzen, daß er mir seinen schönen Morpheus, als einen Traumgort, nicht als ein allegorisches Ge- spenst der Träume, vorstellt. Jch danke es den Dichtern der Freude, und des Amors, daß sie die- sem Gotte, dieser Göttinn nicht, als Gespenstern eines abstrakten Begriffes, zu gut allegorisiren, son- dern lieber einem Gotte der Liebe, einer Göttinn der Freude zu Ehren singen. Jenes wird ein trockner Eichenkranz von symbolischen Prädicaten, dies eine Reihe von Empfindungen, die einem solchen gedich- teten Wesen überhaupt geziemen -- ein merkli- cher Unterschied!
Wenn
Kritiſche Waͤlder.
Zuge neu entkleiden; warum ließ mich, da es hier bloß auf Wahrheit und Muͤhe ankommt, der Dich- ter die Wahrheit nicht nackt ſehen? ohne Muͤhe der Entkleidung? ohne langes Geſuch? Mitten im al- legoriſchen Traume unſrer Wochenblaͤtter ſchlafe ich ein, und vielleicht viele Leſer mit mir.
Nichts bleibt uͤbrig, als kleine Gedichte, oder Einfaͤlle in Gedichten: Bilder, Gleichniſſe, Epi- gramme, Lieder, Oden — „Bilder und Gleichniſ- „ſe?„ wohl! und die alte Mythologie iſt voll ſchoͤ- ner Allegorien! Epigramme? Ein Epigramm iſt ein Bon-Mot in der Dichtkunſt, es gefalle durch ſeinen Stachel, oder ſeine außerordentliche Simplicitaͤt. Aber Lieder? Oden? Selten koͤnnen lange durch- aus allegoriſche Lieder und Oden gefallen! Jch danke es Uzen, daß er mir ſeinen ſchoͤnen Morpheus, als einen Traumgort, nicht als ein allegoriſches Ge- ſpenſt der Traͤume, vorſtellt. Jch danke es den Dichtern der Freude, und des Amors, daß ſie die- ſem Gotte, dieſer Goͤttinn nicht, als Geſpenſtern eines abſtrakten Begriffes, zu gut allegoriſiren, ſon- dern lieber einem Gotte der Liebe, einer Goͤttinn der Freude zu Ehren ſingen. Jenes wird ein trockner Eichenkranz von ſymboliſchen Praͤdicaten, dies eine Reihe von Empfindungen, die einem ſolchen gedich- teten Weſen uͤberhaupt geziemen — ein merkli- cher Unterſchied!
Wenn
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Kritiſche Waͤlder.
Zuge neu entkleiden; warum ließ mich, da es hier
bloß auf Wahrheit und Muͤhe ankommt, der Dich-
ter die Wahrheit nicht nackt ſehen? ohne Muͤhe der
Entkleidung? ohne langes Geſuch? Mitten im al-
legoriſchen Traume unſrer Wochenblaͤtter ſchlafe ich
ein, und vielleicht viele Leſer mit mir.
Nichts bleibt uͤbrig, als kleine Gedichte, oder
Einfaͤlle in Gedichten: Bilder, Gleichniſſe, Epi-
gramme, Lieder, Oden — „Bilder und Gleichniſ-
„ſe?„ wohl! und die alte Mythologie iſt voll ſchoͤ-
ner Allegorien! Epigramme? Ein Epigramm iſt ein
Bon-Mot in der Dichtkunſt, es gefalle durch ſeinen
Stachel, oder ſeine außerordentliche Simplicitaͤt.
Aber Lieder? Oden? Selten koͤnnen lange durch-
aus allegoriſche Lieder und Oden gefallen! Jch
danke es Uzen, daß er mir ſeinen ſchoͤnen Morpheus,
als einen Traumgort, nicht als ein allegoriſches Ge-
ſpenſt der Traͤume, vorſtellt. Jch danke es den
Dichtern der Freude, und des Amors, daß ſie die-
ſem Gotte, dieſer Goͤttinn nicht, als Geſpenſtern
eines abſtrakten Begriffes, zu gut allegoriſiren, ſon-
dern lieber einem Gotte der Liebe, einer Goͤttinn der
Freude zu Ehren ſingen. Jenes wird ein trockner
Eichenkranz von ſymboliſchen Praͤdicaten, dies eine
Reihe von Empfindungen, die einem ſolchen gedich-
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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/120>, abgerufen am 17.07.2024.
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