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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Zweites Wäldchen.
wir Fratzengeschichte der africanischen Negern --
welch ein Tausch! Und Tausch soll doch seyn? die
neuentdeckte Welt soll uns doch das reichlich und
überreichlich geben können, was uns die elende grie-
chische Mythologie giebt? Und was giebt diese für
die Poesie anders, als Dichtungen, Geschichte,
Fabeln,
in die poetische Composition gelegt wird,
uns zu täuschen, zu vergnügen.

Hätten unserm Verf. richtige und genaue Be-
griffe vom Wesen der Poesie, und vom wesentlichen
Gebrauche der Mythologie in der Dichtkunst der Al-
ten beigewohnt: so würde er sich sein Edikt gegen
diese, und seine Vorschläge zur Schadloshaltung
jener, selbst erlassen haben. Jetzt rächt sich an ihm
Kalliope, wie dort Bacchus am Lykurgus, da die-
ser seinen Wein ausrotten wollte; sie läßt ihn näm-
lich die Linie passiren, und schickt ihn nach Mohren
und Malabaren, um, wie ein Orpheus und Homer
aus Aegypten zurückzukommen, -- der Vater
einer neuen Poesie,
die seit Griechen und Römer
Zeiten nicht gewesen.

Non vsitata, nec tenui ferar
Penna biformis per liquidum aethera
Vates, neque in terris morabor

Longius, inuidiaque maior
Vrbes relinquam: non ego pauperum
Sanguis parentum, non ego -- --
Stygia cohibebor vnda.

Iam

Zweites Waͤldchen.
wir Fratzengeſchichte der africaniſchen Negern —
welch ein Tauſch! Und Tauſch ſoll doch ſeyn? die
neuentdeckte Welt ſoll uns doch das reichlich und
uͤberreichlich geben koͤnnen, was uns die elende grie-
chiſche Mythologie giebt? Und was giebt dieſe fuͤr
die Poeſie anders, als Dichtungen, Geſchichte,
Fabeln,
in die poetiſche Compoſition gelegt wird,
uns zu taͤuſchen, zu vergnuͤgen.

Haͤtten unſerm Verf. richtige und genaue Be-
griffe vom Weſen der Poeſie, und vom weſentlichen
Gebrauche der Mythologie in der Dichtkunſt der Al-
ten beigewohnt: ſo wuͤrde er ſich ſein Edikt gegen
dieſe, und ſeine Vorſchlaͤge zur Schadloshaltung
jener, ſelbſt erlaſſen haben. Jetzt raͤcht ſich an ihm
Kalliope, wie dort Bacchus am Lykurgus, da die-
ſer ſeinen Wein ausrotten wollte; ſie laͤßt ihn naͤm-
lich die Linie paſſiren, und ſchickt ihn nach Mohren
und Malabaren, um, wie ein Orpheus und Homer
aus Aegypten zuruͤckzukommen, — der Vater
einer neuen Poeſie,
die ſeit Griechen und Roͤmer
Zeiten nicht geweſen.

Non vſitata, nec tenui ferar
Penna biformis per liquidum aethera
Vates, neque in terris morabor

Longius, inuidiaque maior
Vrbes relinquam: non ego pauperum
Sanguis parentum, non ego — —
Stygia cohibebor vnda.

Iam
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[111/0117] Zweites Waͤldchen. wir Fratzengeſchichte der africaniſchen Negern — welch ein Tauſch! Und Tauſch ſoll doch ſeyn? die neuentdeckte Welt ſoll uns doch das reichlich und uͤberreichlich geben koͤnnen, was uns die elende grie- chiſche Mythologie giebt? Und was giebt dieſe fuͤr die Poeſie anders, als Dichtungen, Geſchichte, Fabeln, in die poetiſche Compoſition gelegt wird, uns zu taͤuſchen, zu vergnuͤgen. Haͤtten unſerm Verf. richtige und genaue Be- griffe vom Weſen der Poeſie, und vom weſentlichen Gebrauche der Mythologie in der Dichtkunſt der Al- ten beigewohnt: ſo wuͤrde er ſich ſein Edikt gegen dieſe, und ſeine Vorſchlaͤge zur Schadloshaltung jener, ſelbſt erlaſſen haben. Jetzt raͤcht ſich an ihm Kalliope, wie dort Bacchus am Lykurgus, da die- ſer ſeinen Wein ausrotten wollte; ſie laͤßt ihn naͤm- lich die Linie paſſiren, und ſchickt ihn nach Mohren und Malabaren, um, wie ein Orpheus und Homer aus Aegypten zuruͤckzukommen, — der Vater einer neuen Poeſie, die ſeit Griechen und Roͤmer Zeiten nicht geweſen. Non vſitata, nec tenui ferar Penna biformis per liquidum aethera Vates, neque in terris morabor Longius, inuidiaque maior Vrbes relinquam: non ego pauperum Sanguis parentum, non ego — — Stygia cohibebor vnda. Iam

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/117>, abgerufen am 23.11.2024.