Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder
die fast immer ökonomischen Bilder eines Dyers
gebracht haben; aber mit Misvergnügen auch der
unseligen Augenblicke, die mir die gelehrt seyn sollen-
den Gleichnisse eines Curtius u. a. erwecket. Blos
als Gleichnisse betrachtet, sind die Offenbarungen
der neuern Naturkunde lange nicht so des Lichts der
Anschauung fähig, oft so schwer poetisch und ohne
Kunstsprache auszudrücken: so oft über die Sphäre
des common sense unsrer Zeit, für welchen doch
Gedichte geschrieben werden müssen, erhoben: so oft
für diesen ohne Commentar dunkel, und wer will
über ein Gleichniß denn einen Commentar lesen?
endlich weit seltner an die eigentlichen Gegenstände
der poetischen Welt gränzend, um ein Drittes der
Vergleichung zu haben, das beide nahe zusammen-
bringe -- und das waren sie blos als Gleichnisse.
Gleichnisse aber sind höchstens in Lehrgedichten das
Wesen der Poesie: Gleichnisse aber sind gewiß nicht
der wichtigste Gebrauch der Mythologie: Gleich-
nisse also machen hier keinen Gegensatz, nicht die
Mythologie unnöthig, nicht die Naturlehre zur
Mythologie.

Fabel, Dichtung, Handlungen, die bis zur
Täuschung eindringen, sind das Wesen der Dicht-
kunst, und wie weit weniger kann hier die Natur-
lehre zutragen? Kann sie der Epopee und Helden-
oper Maschinen schaffen, die mit der Jndividua-
lität, mit der hohen und schönen Natur, mit der

charak-

Kritiſche Waͤlder
die faſt immer oͤkonomiſchen Bilder eines Dyers
gebracht haben; aber mit Misvergnuͤgen auch der
unſeligen Augenblicke, die mir die gelehrt ſeyn ſollen-
den Gleichniſſe eines Curtius u. a. erwecket. Blos
als Gleichniſſe betrachtet, ſind die Offenbarungen
der neuern Naturkunde lange nicht ſo des Lichts der
Anſchauung faͤhig, oft ſo ſchwer poetiſch und ohne
Kunſtſprache auszudruͤcken: ſo oft uͤber die Sphaͤre
des common ſenſe unſrer Zeit, fuͤr welchen doch
Gedichte geſchrieben werden muͤſſen, erhoben: ſo oft
fuͤr dieſen ohne Commentar dunkel, und wer will
uͤber ein Gleichniß denn einen Commentar leſen?
endlich weit ſeltner an die eigentlichen Gegenſtaͤnde
der poetiſchen Welt graͤnzend, um ein Drittes der
Vergleichung zu haben, das beide nahe zuſammen-
bringe — und das waren ſie blos als Gleichniſſe.
Gleichniſſe aber ſind hoͤchſtens in Lehrgedichten das
Weſen der Poeſie: Gleichniſſe aber ſind gewiß nicht
der wichtigſte Gebrauch der Mythologie: Gleich-
niſſe alſo machen hier keinen Gegenſatz, nicht die
Mythologie unnoͤthig, nicht die Naturlehre zur
Mythologie.

Fabel, Dichtung, Handlungen, die bis zur
Taͤuſchung eindringen, ſind das Weſen der Dicht-
kunſt, und wie weit weniger kann hier die Natur-
lehre zutragen? Kann ſie der Epopee und Helden-
oper Maſchinen ſchaffen, die mit der Jndividua-
litaͤt, mit der hohen und ſchoͤnen Natur, mit der

charak-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0112" n="106"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder</hi></fw><lb/>
die fa&#x017F;t immer o&#x0364;konomi&#x017F;chen Bilder eines <hi rendition="#fr">Dyers</hi><lb/>
gebracht haben; aber mit Misvergnu&#x0364;gen auch der<lb/>
un&#x017F;eligen Augenblicke, die mir die gelehrt &#x017F;eyn &#x017F;ollen-<lb/>
den Gleichni&#x017F;&#x017F;e eines <hi rendition="#fr">Curtius</hi> u. a. erwecket. <hi rendition="#fr">Blos</hi><lb/>
als Gleichni&#x017F;&#x017F;e betrachtet, &#x017F;ind die Offenbarungen<lb/>
der neuern Naturkunde lange nicht &#x017F;o des Lichts der<lb/>
An&#x017F;chauung fa&#x0364;hig, oft &#x017F;o &#x017F;chwer poeti&#x017F;ch und ohne<lb/>
Kun&#x017F;t&#x017F;prache auszudru&#x0364;cken: &#x017F;o oft u&#x0364;ber die Spha&#x0364;re<lb/>
des <hi rendition="#aq">common &#x017F;en&#x017F;e</hi> un&#x017F;rer Zeit, fu&#x0364;r welchen doch<lb/>
Gedichte ge&#x017F;chrieben werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, erhoben: &#x017F;o oft<lb/>
fu&#x0364;r die&#x017F;en ohne Commentar dunkel, und wer will<lb/>
u&#x0364;ber ein Gleichniß denn einen Commentar le&#x017F;en?<lb/>
endlich weit &#x017F;eltner an die eigentlichen Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde<lb/>
der poeti&#x017F;chen Welt gra&#x0364;nzend, um ein Drittes der<lb/>
Vergleichung zu haben, das beide nahe zu&#x017F;ammen-<lb/>
bringe &#x2014; und das waren &#x017F;ie blos als Gleichni&#x017F;&#x017F;e.<lb/>
Gleichni&#x017F;&#x017F;e aber &#x017F;ind ho&#x0364;ch&#x017F;tens in Lehrgedichten das<lb/>
We&#x017F;en der Poe&#x017F;ie: Gleichni&#x017F;&#x017F;e aber &#x017F;ind gewiß nicht<lb/>
der wichtig&#x017F;te Gebrauch der Mythologie: Gleich-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e al&#x017F;o machen hier keinen Gegen&#x017F;atz, nicht die<lb/>
Mythologie unno&#x0364;thig, nicht die Naturlehre zur<lb/>
Mythologie.</p><lb/>
          <p>Fabel, Dichtung, Handlungen, die bis zur<lb/>
Ta&#x0364;u&#x017F;chung eindringen, &#x017F;ind das We&#x017F;en der Dicht-<lb/>
kun&#x017F;t, und wie weit weniger kann hier die Natur-<lb/>
lehre zutragen? Kann &#x017F;ie der Epopee und Helden-<lb/>
oper Ma&#x017F;chinen &#x017F;chaffen, die mit der Jndividua-<lb/>
lita&#x0364;t, mit der hohen und &#x017F;cho&#x0364;nen Natur, mit der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">charak-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[106/0112] Kritiſche Waͤlder die faſt immer oͤkonomiſchen Bilder eines Dyers gebracht haben; aber mit Misvergnuͤgen auch der unſeligen Augenblicke, die mir die gelehrt ſeyn ſollen- den Gleichniſſe eines Curtius u. a. erwecket. Blos als Gleichniſſe betrachtet, ſind die Offenbarungen der neuern Naturkunde lange nicht ſo des Lichts der Anſchauung faͤhig, oft ſo ſchwer poetiſch und ohne Kunſtſprache auszudruͤcken: ſo oft uͤber die Sphaͤre des common ſenſe unſrer Zeit, fuͤr welchen doch Gedichte geſchrieben werden muͤſſen, erhoben: ſo oft fuͤr dieſen ohne Commentar dunkel, und wer will uͤber ein Gleichniß denn einen Commentar leſen? endlich weit ſeltner an die eigentlichen Gegenſtaͤnde der poetiſchen Welt graͤnzend, um ein Drittes der Vergleichung zu haben, das beide nahe zuſammen- bringe — und das waren ſie blos als Gleichniſſe. Gleichniſſe aber ſind hoͤchſtens in Lehrgedichten das Weſen der Poeſie: Gleichniſſe aber ſind gewiß nicht der wichtigſte Gebrauch der Mythologie: Gleich- niſſe alſo machen hier keinen Gegenſatz, nicht die Mythologie unnoͤthig, nicht die Naturlehre zur Mythologie. Fabel, Dichtung, Handlungen, die bis zur Taͤuſchung eindringen, ſind das Weſen der Dicht- kunſt, und wie weit weniger kann hier die Natur- lehre zutragen? Kann ſie der Epopee und Helden- oper Maſchinen ſchaffen, die mit der Jndividua- litaͤt, mit der hohen und ſchoͤnen Natur, mit der charak-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/112
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/112>, abgerufen am 23.11.2024.