"Charon." Jch weiß, daß dieser Rath in die Köpfe mehrerer ingeniosorum gekommen: denn Rathgeben, sagt Plato, ist doch eine göttliche Sache; und gegebene Rathschläge prüfen, dächte ich, noch eine göttlichere.
Jch setze voraus, daß hier die Frage nichts we- niger, als Wortzierrath, dichterischen Schmuck betreffe, denn jeder Zierrath, der nicht aus der Sache selbst entspringet, der erst gesucht werden muß, ist Fehler; wir suchen also eine innere Berei- cherung der Poesie in ihrem Wesen statt der My- thologie.
"Entdeckungen der Naturlehre!" Allerdings! wenn sie so bekannt, so fähig der poetischen Sprache, so reich au Bildern, so anschaulich sind -- als die Mythologie; allerdings! So verschwinde jene, wie Schatten gegen die Sonne, wie Fabel gegen die Wahrheit: und die Schöpfung eines Newtons, Neuentyts, Swammerdams, Buffons, Reau- murs, Tourneforts und Hallers trete an die Stelle des Fabelkrams eines Apollodors, oder Natalis Comes. Aber zu welcher eigentlichen Function soll sie dahintreten? Einzelner Gleich- nisse, Bilder halber? Mit Vergnügen erinnere ich mich zwar der seligen Augenblicke, die mir die tie- fen Naturgleichnisse eines Hallers, die unerwar- teten Arzneigleichnisse eines Witthofs, der fast ganz aus dieser Welt von Wissenschaften gedichtet,
die
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Zweites Waͤldchen.
„Charon.„ Jch weiß, daß dieſer Rath in die Koͤpfe mehrerer ingenioſorum gekommen: denn Rathgeben, ſagt Plato, iſt doch eine goͤttliche Sache; und gegebene Rathſchlaͤge pruͤfen, daͤchte ich, noch eine goͤttlichere.
Jch ſetze voraus, daß hier die Frage nichts we- niger, als Wortzierrath, dichteriſchen Schmuck betreffe, denn jeder Zierrath, der nicht aus der Sache ſelbſt entſpringet, der erſt geſucht werden muß, iſt Fehler; wir ſuchen alſo eine innere Berei- cherung der Poeſie in ihrem Weſen ſtatt der My- thologie.
„Entdeckungen der Naturlehre!„ Allerdings! wenn ſie ſo bekannt, ſo faͤhig der poetiſchen Sprache, ſo reich au Bildern, ſo anſchaulich ſind — als die Mythologie; allerdings! So verſchwinde jene, wie Schatten gegen die Sonne, wie Fabel gegen die Wahrheit: und die Schoͤpfung eines Newtons, Neuentyts, Swammerdams, Buffons, Reau- murs, Tourneforts und Hallers trete an die Stelle des Fabelkrams eines Apollodors, oder Natalis Comes. Aber zu welcher eigentlichen Function ſoll ſie dahintreten? Einzelner Gleich- niſſe, Bilder halber? Mit Vergnuͤgen erinnere ich mich zwar der ſeligen Augenblicke, die mir die tie- fen Naturgleichniſſe eines Hallers, die unerwar- teten Arzneigleichniſſe eines Witthofs, der faſt ganz aus dieſer Welt von Wiſſenſchaften gedichtet,
die
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Zweites Waͤldchen.
„Charon.„ Jch weiß, daß dieſer Rath in die
Koͤpfe mehrerer ingenioſorum gekommen: denn
Rathgeben, ſagt Plato, iſt doch eine goͤttliche Sache;
und gegebene Rathſchlaͤge pruͤfen, daͤchte ich, noch
eine goͤttlichere.
Jch ſetze voraus, daß hier die Frage nichts we-
niger, als Wortzierrath, dichteriſchen Schmuck
betreffe, denn jeder Zierrath, der nicht aus der
Sache ſelbſt entſpringet, der erſt geſucht werden
muß, iſt Fehler; wir ſuchen alſo eine innere Berei-
cherung der Poeſie in ihrem Weſen ſtatt der My-
thologie.
„Entdeckungen der Naturlehre!„ Allerdings!
wenn ſie ſo bekannt, ſo faͤhig der poetiſchen Sprache,
ſo reich au Bildern, ſo anſchaulich ſind — als die
Mythologie; allerdings! So verſchwinde jene, wie
Schatten gegen die Sonne, wie Fabel gegen die
Wahrheit: und die Schoͤpfung eines Newtons,
Neuentyts, Swammerdams, Buffons, Reau-
murs, Tourneforts und Hallers trete an die
Stelle des Fabelkrams eines Apollodors, oder
Natalis Comes. Aber zu welcher eigentlichen
Function ſoll ſie dahintreten? Einzelner Gleich-
niſſe, Bilder halber? Mit Vergnuͤgen erinnere ich
mich zwar der ſeligen Augenblicke, die mir die tie-
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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/111>, abgerufen am 16.02.2025.
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