Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Wäldchen.
charakteristischen Bestandheit, mit der bekannten
Anschaulichkeit, mit der Täuschungsgabe handeln
können, als in Homer die Götter der Mythologie
handeln -- wohlan! so treten Gnomen und Syl-
phen, und Nymphen und Salamanders, die ganze
Schöpfung des Theophrastus Paracelsus, und Cor-
nelius Agrippa, die personif[i]irte ganze Naturkunde
in die Stelle mythologischer Wesen. Kann sie dem
Drama, der pindarischen und horazischen Ode, der
Fabel, der Erzälung, der Jdylle so viele, so schöne
und so reiche Dichtung schafsen, als die Mytholo-
gie der alten Dichter dieser Gattungen schuff, so
trete sie auf. Hier lasse ich meine Leser mit aller
Gemächlichkeit alle Dichter des Alterthums in al-
len Arten der Dichtkunst, und in jeder ihre glück-
lichen Fictionen aus dem Vorrathe der Mythologie
-- nachzählen: alle neuere Dichter, die aus dieser
Quelle, es sey auf was Art es wolle, glücklich ge-
schöpft, bis auf unsern lieben warmen Wieland zu
-- alsdenn überschlage er, ob ihm das alles Na-
turkunde ersetzen könne, und thue den Ausspruch.
Meines Wissens giebt diese einzelne Begriffe, Kennt-
nisse, Wissenschaft; die Poesie will Geschichte, hand-
lungsvolle Begebenheiten, täuschende Fabeln --
welche beide Ende!

Jch sage nicht, daß nicht aus der Naturkunde
unsre Dichtkunst noch sehr mit Wahrheiten und
Bildern bereichert werden könne, daß aus diesen

Wahr-

Zweites Waͤldchen.
charakteriſtiſchen Beſtandheit, mit der bekannten
Anſchaulichkeit, mit der Taͤuſchungsgabe handeln
koͤnnen, als in Homer die Goͤtter der Mythologie
handeln — wohlan! ſo treten Gnomen und Syl-
phen, und Nymphen und Salamanders, die ganze
Schoͤpfung des Theophraſtus Paracelſus, und Cor-
nelius Agrippa, die perſonif[i]irte ganze Naturkunde
in die Stelle mythologiſcher Weſen. Kann ſie dem
Drama, der pindariſchen und horaziſchen Ode, der
Fabel, der Erzaͤlung, der Jdylle ſo viele, ſo ſchoͤne
und ſo reiche Dichtung ſchafſen, als die Mytholo-
gie der alten Dichter dieſer Gattungen ſchuff, ſo
trete ſie auf. Hier laſſe ich meine Leſer mit aller
Gemaͤchlichkeit alle Dichter des Alterthums in al-
len Arten der Dichtkunſt, und in jeder ihre gluͤck-
lichen Fictionen aus dem Vorrathe der Mythologie
— nachzaͤhlen: alle neuere Dichter, die aus dieſer
Quelle, es ſey auf was Art es wolle, gluͤcklich ge-
ſchoͤpft, bis auf unſern lieben warmen Wieland zu
— alsdenn uͤberſchlage er, ob ihm das alles Na-
turkunde erſetzen koͤnne, und thue den Ausſpruch.
Meines Wiſſens giebt dieſe einzelne Begriffe, Kennt-
niſſe, Wiſſenſchaft; die Poeſie will Geſchichte, hand-
lungsvolle Begebenheiten, taͤuſchende Fabeln —
welche beide Ende!

Jch ſage nicht, daß nicht aus der Naturkunde
unſre Dichtkunſt noch ſehr mit Wahrheiten und
Bildern bereichert werden koͤnne, daß aus dieſen

Wahr-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0113" n="107"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zweites Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
charakteri&#x017F;ti&#x017F;chen Be&#x017F;tandheit, mit der bekannten<lb/>
An&#x017F;chaulichkeit, mit der Ta&#x0364;u&#x017F;chungsgabe handeln<lb/>
ko&#x0364;nnen, als in Homer die Go&#x0364;tter der Mythologie<lb/>
handeln &#x2014; wohlan! &#x017F;o treten Gnomen und Syl-<lb/>
phen, und Nymphen und Salamanders, die ganze<lb/>
Scho&#x0364;pfung des Theophra&#x017F;tus Paracel&#x017F;us, und Cor-<lb/>
nelius Agrippa, die per&#x017F;onif<supplied>i</supplied>irte ganze Naturkunde<lb/>
in die Stelle mythologi&#x017F;cher We&#x017F;en. Kann &#x017F;ie dem<lb/>
Drama, der pindari&#x017F;chen und horazi&#x017F;chen Ode, der<lb/>
Fabel, der Erza&#x0364;lung, der Jdylle &#x017F;o viele, &#x017F;o &#x017F;cho&#x0364;ne<lb/>
und &#x017F;o reiche Dichtung &#x017F;chaf&#x017F;en, als die Mytholo-<lb/>
gie der alten Dichter die&#x017F;er Gattungen &#x017F;chuff, &#x017F;o<lb/>
trete &#x017F;ie auf. Hier la&#x017F;&#x017F;e ich meine Le&#x017F;er mit aller<lb/>
Gema&#x0364;chlichkeit alle Dichter des Alterthums in al-<lb/>
len Arten der Dichtkun&#x017F;t, und in jeder ihre glu&#x0364;ck-<lb/>
lichen Fictionen aus dem Vorrathe der Mythologie<lb/>
&#x2014; nachza&#x0364;hlen: alle neuere Dichter, die aus die&#x017F;er<lb/>
Quelle, es &#x017F;ey auf was Art es wolle, glu&#x0364;cklich ge-<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;pft, bis auf un&#x017F;ern lieben warmen Wieland zu<lb/>
&#x2014; alsdenn u&#x0364;ber&#x017F;chlage er, ob ihm <hi rendition="#fr">das alles</hi> Na-<lb/>
turkunde er&#x017F;etzen ko&#x0364;nne, und thue den Aus&#x017F;pruch.<lb/>
Meines Wi&#x017F;&#x017F;ens giebt die&#x017F;e einzelne Begriffe, Kennt-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e, Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft; die Poe&#x017F;ie will Ge&#x017F;chichte, hand-<lb/>
lungsvolle Begebenheiten, ta&#x0364;u&#x017F;chende Fabeln &#x2014;<lb/>
welche beide Ende!</p><lb/>
          <p>Jch &#x017F;age nicht, daß nicht aus der Naturkunde<lb/>
un&#x017F;re Dichtkun&#x017F;t noch &#x017F;ehr mit Wahrheiten und<lb/>
Bildern bereichert werden ko&#x0364;nne, daß aus die&#x017F;en<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Wahr-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[107/0113] Zweites Waͤldchen. charakteriſtiſchen Beſtandheit, mit der bekannten Anſchaulichkeit, mit der Taͤuſchungsgabe handeln koͤnnen, als in Homer die Goͤtter der Mythologie handeln — wohlan! ſo treten Gnomen und Syl- phen, und Nymphen und Salamanders, die ganze Schoͤpfung des Theophraſtus Paracelſus, und Cor- nelius Agrippa, die perſonifiirte ganze Naturkunde in die Stelle mythologiſcher Weſen. Kann ſie dem Drama, der pindariſchen und horaziſchen Ode, der Fabel, der Erzaͤlung, der Jdylle ſo viele, ſo ſchoͤne und ſo reiche Dichtung ſchafſen, als die Mytholo- gie der alten Dichter dieſer Gattungen ſchuff, ſo trete ſie auf. Hier laſſe ich meine Leſer mit aller Gemaͤchlichkeit alle Dichter des Alterthums in al- len Arten der Dichtkunſt, und in jeder ihre gluͤck- lichen Fictionen aus dem Vorrathe der Mythologie — nachzaͤhlen: alle neuere Dichter, die aus dieſer Quelle, es ſey auf was Art es wolle, gluͤcklich ge- ſchoͤpft, bis auf unſern lieben warmen Wieland zu — alsdenn uͤberſchlage er, ob ihm das alles Na- turkunde erſetzen koͤnne, und thue den Ausſpruch. Meines Wiſſens giebt dieſe einzelne Begriffe, Kennt- niſſe, Wiſſenſchaft; die Poeſie will Geſchichte, hand- lungsvolle Begebenheiten, taͤuſchende Fabeln — welche beide Ende! Jch ſage nicht, daß nicht aus der Naturkunde unſre Dichtkunſt noch ſehr mit Wahrheiten und Bildern bereichert werden koͤnne, daß aus dieſen Wahr-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/113
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/113>, abgerufen am 02.05.2024.