ihm beliebt, in allen neuern Dichtern die Mytho- logie für schallenden Unsinn, für hundertmal ge- brauchten Flitterstaat zu erkennen, und nun frage ich jeden guten Dichter unsres Vaterlandes: ist so Etwas nicht unter der Kritik?
Wie aber, wenn Hr. Kl. a) uns einen ganz neuen Ersatz der Mythologie gäbe? -- Ehe wir sein neues Geschenk preisen, so lasset uns erst sehen, ob es der Annahme werth sey, und denn erst, ob es als Aequivalent gelten könne? "Was einige be- "füchten, daß, wenn sie die alte Mythologie ver- "lören, ihre Verse kalt und matt werden dörften "-- die Furcht ist vergebens. Liefert uns doch "unsere heutige Welt solch eine Menge neuer Ge- "danken und Bilder, daß es einem glücklichen "Kopfe nie an Zierrathe seiner Gedichte fehlen kann" (eben als wenn ein glücklicher Kopf den Bettel wollte und brauchte!) "Bedenke, wie manches in "der Naturlehre durch die Bemühung der Men- "schen jetzt entwickelt ist, was vormals entweder "unbekannt, oder sehr dunkel seyn mußte. Be- "merke ferner, daß der Kreis der Erde in neuern "Zeiten gleichsam erweitert sey, durch Entdeckung "der Länder, die vormals unbekannt waren, und "erwäge, welch eine Menge Zierrathen dem Poeten "daraus erwachse, weit besser, als die Namen einer "Juno, Pluto, Cerberus, Rhadamantus und
"Cha-
a)p. 126.
Kritiſche Waͤlder.
ihm beliebt, in allen neuern Dichtern die Mytho- logie fuͤr ſchallenden Unſinn, fuͤr hundertmal ge- brauchten Flitterſtaat zu erkennen, und nun frage ich jeden guten Dichter unſres Vaterlandes: iſt ſo Etwas nicht unter der Kritik?
Wie aber, wenn Hr. Kl. a) uns einen ganz neuen Erſatz der Mythologie gaͤbe? — Ehe wir ſein neues Geſchenk preiſen, ſo laſſet uns erſt ſehen, ob es der Annahme werth ſey, und denn erſt, ob es als Aequivalent gelten koͤnne? „Was einige be- „fuͤchten, daß, wenn ſie die alte Mythologie ver- „loͤren, ihre Verſe kalt und matt werden doͤrften „— die Furcht iſt vergebens. Liefert uns doch „unſere heutige Welt ſolch eine Menge neuer Ge- „danken und Bilder, daß es einem gluͤcklichen „Kopfe nie an Zierrathe ſeiner Gedichte fehlen kann„ (eben als wenn ein gluͤcklicher Kopf den Bettel wollte und brauchte!) „Bedenke, wie manches in „der Naturlehre durch die Bemuͤhung der Men- „ſchen jetzt entwickelt iſt, was vormals entweder „unbekannt, oder ſehr dunkel ſeyn mußte. Be- „merke ferner, daß der Kreis der Erde in neuern „Zeiten gleichſam erweitert ſey, durch Entdeckung „der Laͤnder, die vormals unbekannt waren, und „erwaͤge, welch eine Menge Zierrathen dem Poeten „daraus erwachſe, weit beſſer, als die Namen einer „Juno, Pluto, Cerberus, Rhadamantus und
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ihm beliebt, in allen neuern Dichtern die Mytho-
logie fuͤr ſchallenden Unſinn, fuͤr hundertmal ge-
brauchten Flitterſtaat zu erkennen, und nun frage
ich jeden guten Dichter unſres Vaterlandes: iſt ſo
Etwas nicht unter der Kritik?
Wie aber, wenn Hr. Kl. a) uns einen ganz
neuen Erſatz der Mythologie gaͤbe? — Ehe wir
ſein neues Geſchenk preiſen, ſo laſſet uns erſt ſehen,
ob es der Annahme werth ſey, und denn erſt, ob es
als Aequivalent gelten koͤnne? „Was einige be-
„fuͤchten, daß, wenn ſie die alte Mythologie ver-
„loͤren, ihre Verſe kalt und matt werden doͤrften
„— die Furcht iſt vergebens. Liefert uns doch
„unſere heutige Welt ſolch eine Menge neuer Ge-
„danken und Bilder, daß es einem gluͤcklichen
„Kopfe nie an Zierrathe ſeiner Gedichte fehlen kann„
(eben als wenn ein gluͤcklicher Kopf den Bettel
wollte und brauchte!) „Bedenke, wie manches in
„der Naturlehre durch die Bemuͤhung der Men-
„ſchen jetzt entwickelt iſt, was vormals entweder
„unbekannt, oder ſehr dunkel ſeyn mußte. Be-
„merke ferner, daß der Kreis der Erde in neuern
„Zeiten gleichſam erweitert ſey, durch Entdeckung
„der Laͤnder, die vormals unbekannt waren, und
„erwaͤge, welch eine Menge Zierrathen dem Poeten
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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/110>, abgerufen am 18.07.2024.
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