verlieren müssen: Sprache, Poesie, Wissenschaft, Kunst der Alten -- eine schwere Verbannung! Wir wollen den irrigen, abergläubischen Ketzer dul- den; denn mit ihm hätten wir, wie die Christen zu Julians des Abtrünnigen Zeiten, zu viel verlohren? Das wäre die Zweite Voraussetzung.
Hieraus würde auch die erstaunensvolle Frage beantwortet: warum dies böse Ding, das doch blos auf dem Jrrthum und Aberglauben der Alten beru- het, habe beibehalten werden können? eine Blindheit, die Jahrhunderte durch gedauret! Es wäre also unmaßgeblich zu zeigen: "daß die Mythologie in "ihrem Gebrauche wohl e[tw]as mehr, als Schall ohne "Sinn, Worte ohne Bedeutung, unnützer Flitter- "staat, Gottlosigkeit und Aberglauben gewesen sey "und seyn könne." Wie tief muß eine solche De- duction anfangen! Und was hat unser christliches Taufwasser mit dem ganz andern Werke zu thun, in einer sehr bekannten, sehr Jdeen- und Bilder- reichen Sprache poetische Zwecke zu erreichen?
Freilich könnte es eine feine Aufgabe bleiben: "wie weit wir im Gebrauche mancherlei mytholo- "gischer Jdeen den Griechen und Römern nur be- "scheiden nachtreten müssen?" Allein hieran ist bei meinem Autor, und bei dem berühmten Vorredner Apollodors nicht zu gedenken; hier kommt auch nichts weniger, als Jrrthum und Aberglaube, in Betracht: die bei ihm alles sind. Gnug! daß es
ihm
G 4
Zweites Waͤldchen.
verlieren muͤſſen: Sprache, Poeſie, Wiſſenſchaft, Kunſt der Alten — eine ſchwere Verbannung! Wir wollen den irrigen, aberglaͤubiſchen Ketzer dul- den; denn mit ihm haͤtten wir, wie die Chriſten zu Julians des Abtruͤnnigen Zeiten, zu viel verlohren? Das waͤre die Zweite Vorausſetzung.
Hieraus wuͤrde auch die erſtaunensvolle Frage beantwortet: warum dies boͤſe Ding, das doch blos auf dem Jrrthum und Aberglauben der Alten beru- het, habe beibehalten werden koͤnnen? eine Blindheit, die Jahrhunderte durch gedauret! Es waͤre alſo unmaßgeblich zu zeigen: „daß die Mythologie in „ihrem Gebrauche wohl e[tw]as mehr, als Schall ohne „Sinn, Worte ohne Bedeutung, unnuͤtzer Flitter- „ſtaat, Gottloſigkeit und Aberglauben geweſen ſey „und ſeyn koͤnne.„ Wie tief muß eine ſolche De- duction anfangen! Und was hat unſer chriſtliches Taufwaſſer mit dem ganz andern Werke zu thun, in einer ſehr bekannten, ſehr Jdeen- und Bilder- reichen Sprache poetiſche Zwecke zu erreichen?
Freilich koͤnnte es eine feine Aufgabe bleiben: „wie weit wir im Gebrauche mancherlei mytholo- „giſcher Jdeen den Griechen und Roͤmern nur be- „ſcheiden nachtreten muͤſſen?„ Allein hieran iſt bei meinem Autor, und bei dem beruͤhmten Vorredner Apollodors nicht zu gedenken; hier kommt auch nichts weniger, als Jrrthum und Aberglaube, in Betracht: die bei ihm alles ſind. Gnug! daß es
ihm
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Zweites Waͤldchen.
verlieren muͤſſen: Sprache, Poeſie, Wiſſenſchaft,
Kunſt der Alten — eine ſchwere Verbannung!
Wir wollen den irrigen, aberglaͤubiſchen Ketzer dul-
den; denn mit ihm haͤtten wir, wie die Chriſten zu
Julians des Abtruͤnnigen Zeiten, zu viel verlohren?
Das waͤre die Zweite Vorausſetzung.
Hieraus wuͤrde auch die erſtaunensvolle Frage
beantwortet: warum dies boͤſe Ding, das doch blos
auf dem Jrrthum und Aberglauben der Alten beru-
het, habe beibehalten werden koͤnnen? eine Blindheit,
die Jahrhunderte durch gedauret! Es waͤre alſo
unmaßgeblich zu zeigen: „daß die Mythologie in
„ihrem Gebrauche wohl etwas mehr, als Schall ohne
„Sinn, Worte ohne Bedeutung, unnuͤtzer Flitter-
„ſtaat, Gottloſigkeit und Aberglauben geweſen ſey
„und ſeyn koͤnne.„ Wie tief muß eine ſolche De-
duction anfangen! Und was hat unſer chriſtliches
Taufwaſſer mit dem ganz andern Werke zu thun,
in einer ſehr bekannten, ſehr Jdeen- und Bilder-
reichen Sprache poetiſche Zwecke zu erreichen?
Freilich koͤnnte es eine feine Aufgabe bleiben:
„wie weit wir im Gebrauche mancherlei mytholo-
„giſcher Jdeen den Griechen und Roͤmern nur be-
„ſcheiden nachtreten muͤſſen?„ Allein hieran iſt bei
meinem Autor, und bei dem beruͤhmten Vorredner
Apollodors nicht zu gedenken; hier kommt auch
nichts weniger, als Jrrthum und Aberglaube, in
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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/109>, abgerufen am 18.07.2024.
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