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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Erstes Wäldchen.
ten, Plinius glaubt, blos weil er idoneus auctor
ist. Aber wie wenn Plinius dieß nicht gesagt
hätte?

Plinius Stelle ist diese: Timanthes cum moe-
stos pinxisset omnes, praecipue patruum, & tristi-
tiae omnem imaginem consumpsisset, patris
ipsius vultum velavit, quem digne non pot-
erat ostendere.
Was sagt nun Plinius? daß
Timanth sich an traurigen Physignomien erschöpft,
daß er dem Vater keine traurigere hätte geben
können? nicht! sondern daß diese noch traurigere
seiner nicht würdig gewesen wäre, daß er ihn in der-
selben nicht würdig hätte zeigen können. Jch will
dem Valerius Maximus a) folgen, wie er Ti-
manths Gemälde angiebt: Kalchas erscheint be-
trübt, Ulysses traurig, Ajax stößt eben ein Ach!
aus, Menelaus windet die Hände -- wie nun
Agamemnon? nicht anders als starr, sinnlos, be-
täubt, die Züge des Gesichts eisern angeheftet,
oder -- rasend: denn so äußert sich, dünkt mich,
der höchste Affekt. Würde sich da nun Agame-
mnon würdig zeigen? der Anblick eines Starrse-
henden, ist er würdig eines Vaters? kaum! und der
die Hände windende Menelaus, der ächzende Ajax,
der traurige Ulysses, der betrübte Kalchas würden
gerührter scheinen, als der starre Vater selbst. So
erscheine dieser rasend? ein unnütz rasender Held,

ein
a) Valer. Maxim. lib. VIII. Cap. 11.
F 4

Erſtes Waͤldchen.
ten, Plinius glaubt, blos weil er idoneus auctor
iſt. Aber wie wenn Plinius dieß nicht geſagt
haͤtte?

Plinius Stelle iſt dieſe: Timanthes cum mœ-
ſtos pinxiſſet omnes, præcipue patruum, & triſti-
tiæ omnem imaginem conſumpſiſſet, patris
ipſius vultum velavit, quem digne non pot-
erat oſtendere.
Was ſagt nun Plinius? daß
Timanth ſich an traurigen Phyſignomien erſchoͤpft,
daß er dem Vater keine traurigere haͤtte geben
koͤnnen? nicht! ſondern daß dieſe noch traurigere
ſeiner nicht wuͤrdig geweſen waͤre, daß er ihn in der-
ſelben nicht wuͤrdig haͤtte zeigen koͤnnen. Jch will
dem Valerius Maximus a) folgen, wie er Ti-
manths Gemaͤlde angiebt: Kalchas erſcheint be-
truͤbt, Ulyſſes traurig, Ajax ſtoͤßt eben ein Ach!
aus, Menelaus windet die Haͤnde — wie nun
Agamemnon? nicht anders als ſtarr, ſinnlos, be-
taͤubt, die Zuͤge des Geſichts eiſern angeheftet,
oder — raſend: denn ſo aͤußert ſich, duͤnkt mich,
der hoͤchſte Affekt. Wuͤrde ſich da nun Agame-
mnon wuͤrdig zeigen? der Anblick eines Starrſe-
henden, iſt er wuͤrdig eines Vaters? kaum! und der
die Haͤnde windende Menelaus, der aͤchzende Ajax,
der traurige Ulyſſes, der betruͤbte Kalchas wuͤrden
geruͤhrter ſcheinen, als der ſtarre Vater ſelbſt. So
erſcheine dieſer raſend? ein unnuͤtz raſender Held,

ein
a) Valer. Maxim. lib. VIII. Cap. 11.
F 4
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[87/0093] Erſtes Waͤldchen. ten, Plinius glaubt, blos weil er idoneus auctor iſt. Aber wie wenn Plinius dieß nicht geſagt haͤtte? Plinius Stelle iſt dieſe: Timanthes cum mœ- ſtos pinxiſſet omnes, præcipue patruum, & triſti- tiæ omnem imaginem conſumpſiſſet, patris ipſius vultum velavit, quem digne non pot- erat oſtendere. Was ſagt nun Plinius? daß Timanth ſich an traurigen Phyſignomien erſchoͤpft, daß er dem Vater keine traurigere haͤtte geben koͤnnen? nicht! ſondern daß dieſe noch traurigere ſeiner nicht wuͤrdig geweſen waͤre, daß er ihn in der- ſelben nicht wuͤrdig haͤtte zeigen koͤnnen. Jch will dem Valerius Maximus a) folgen, wie er Ti- manths Gemaͤlde angiebt: Kalchas erſcheint be- truͤbt, Ulyſſes traurig, Ajax ſtoͤßt eben ein Ach! aus, Menelaus windet die Haͤnde — wie nun Agamemnon? nicht anders als ſtarr, ſinnlos, be- taͤubt, die Zuͤge des Geſichts eiſern angeheftet, oder — raſend: denn ſo aͤußert ſich, duͤnkt mich, der hoͤchſte Affekt. Wuͤrde ſich da nun Agame- mnon wuͤrdig zeigen? der Anblick eines Starrſe- henden, iſt er wuͤrdig eines Vaters? kaum! und der die Haͤnde windende Menelaus, der aͤchzende Ajax, der traurige Ulyſſes, der betruͤbte Kalchas wuͤrden geruͤhrter ſcheinen, als der ſtarre Vater ſelbſt. So erſcheine dieſer raſend? ein unnuͤtz raſender Held, ein a) Valer. Maxim. lib. VIII. Cap. 11. F 4

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/93>, abgerufen am 10.05.2024.