[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. diesen ersten Eindruck, in dem der Held erscheint,nicht verfolget; wimmern haben wir ihn kaum von fern gehört, jetzt sehen wir dulden. Mitten unter verbissenen Schmerzen steht und spricht der Men- schenfreund, Grieche, Held -- warum hat Hr. L. das Jnteresse nicht mehr entwickelt, das er als Grieche, als ein theilnehmender Freund der Frem- den, als der Verehrer griechischer Helden, wirket? Man kann kaum mehr für ihn sympathisiren, als man schon gestimmet ist. 2. Und noch zeigt er eine große Seite. Der eben jetzt Flehende hört Ulysses neuen Verrath, und wie ist der flehende Elende plötzlich in einen Helden verwandelt? 3. Jn einen Helden, der gegen seine Feinde noch der ungedemüthigte Stolze bleibt: Originalzug der griechischen Größe, "Liebe gegen die Freunde, un- "wandelbarer Haß gegen die Feinde" a)! Und wer anders als ein Redlicher, kann Neoptolem seine Pfeile und sein Leben so großmüthig anvertrauen? -- ein solcher Mann ist nicht blos auf alle Wege vor Verachtung gesichert: er hat unser ganzes Herz. 4. Das Chor bereitet uns auf die Scene des Elendes, und ist offenbar in dem Tone der Ehr- furcht gegen einen Helden, der da duldet, der so lange geduldet hat, nicht, der da schreiet. -- Wie wenig, wie wenig ist doch also der Philoktet Sophokles sei- nem a) Laok. p. 43. E 4
Erſtes Waͤldchen. dieſen erſten Eindruck, in dem der Held erſcheint,nicht verfolget; wimmern haben wir ihn kaum von fern gehoͤrt, jetzt ſehen wir dulden. Mitten unter verbiſſenen Schmerzen ſteht und ſpricht der Men- ſchenfreund, Grieche, Held — warum hat Hr. L. das Jntereſſe nicht mehr entwickelt, das er als Grieche, als ein theilnehmender Freund der Frem- den, als der Verehrer griechiſcher Helden, wirket? Man kann kaum mehr fuͤr ihn ſympathiſiren, als man ſchon geſtimmet iſt. 2. Und noch zeigt er eine große Seite. Der eben jetzt Flehende hoͤrt Ulyſſes neuen Verrath, und wie iſt der flehende Elende ploͤtzlich in einen Helden verwandelt? 3. Jn einen Helden, der gegen ſeine Feinde noch der ungedemuͤthigte Stolze bleibt: Originalzug der griechiſchen Groͤße, „Liebe gegen die Freunde, un- „wandelbarer Haß gegen die Feinde„ a)! Und wer anders als ein Redlicher, kann Neoptolem ſeine Pfeile und ſein Leben ſo großmuͤthig anvertrauen? — ein ſolcher Mann iſt nicht blos auf alle Wege vor Verachtung geſichert: er hat unſer ganzes Herz. 4. Das Chor bereitet uns auf die Scene des Elendes, und iſt offenbar in dem Tone der Ehr- furcht gegen einen Helden, der da duldet, der ſo lange geduldet hat, nicht, der da ſchreiet. — Wie wenig, wie wenig iſt doch alſo der Philoktet Sophokles ſei- nem a) Laok. p. 43. E 4
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Erſtes Waͤldchen.
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nicht verfolget; wimmern haben wir ihn kaum von
fern gehoͤrt, jetzt ſehen wir dulden. Mitten unter
verbiſſenen Schmerzen ſteht und ſpricht der Men-
ſchenfreund, Grieche, Held — warum hat Hr. L.
das Jntereſſe nicht mehr entwickelt, das er als
Grieche, als ein theilnehmender Freund der Frem-
den, als der Verehrer griechiſcher Helden, wirket?
Man kann kaum mehr fuͤr ihn ſympathiſiren, als
man ſchon geſtimmet iſt.
2. Und noch zeigt er eine große Seite. Der
eben jetzt Flehende hoͤrt Ulyſſes neuen Verrath, und
wie iſt der flehende Elende ploͤtzlich in einen Helden
verwandelt?
3. Jn einen Helden, der gegen ſeine Feinde noch
der ungedemuͤthigte Stolze bleibt: Originalzug der
griechiſchen Groͤße, „Liebe gegen die Freunde, un-
„wandelbarer Haß gegen die Feinde„ a)! Und wer
anders als ein Redlicher, kann Neoptolem ſeine
Pfeile und ſein Leben ſo großmuͤthig anvertrauen? —
ein ſolcher Mann iſt nicht blos auf alle Wege vor
Verachtung geſichert: er hat unſer ganzes Herz.
4. Das Chor bereitet uns auf die Scene des
Elendes, und iſt offenbar in dem Tone der Ehr-
furcht gegen einen Helden, der da duldet, der ſo lange
geduldet hat, nicht, der da ſchreiet. — Wie wenig,
wie wenig iſt doch alſo der Philoktet Sophokles ſei-
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a) Laok. p. 43.
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