[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. 2. Der Elende soll noch einen neuen Streich von der List seines alten Feindes leiden: hier schwillt unsere Theilnehmung, und der Kontrast zwischen Ulysses und Neoptolemus macht die ganze Scene menschlich. 3. Der Chor und Neoptolem drücken die Pfeile des Mitleids tiefer in unser Herz: sie singen sein Elend in vollem Maaße. Wie begierig sind wir nun, den Mann zu sehen, der hier in der wüsten Jn- fel eine besondere Scene spielt, und auf den neues Unglück lauert. Jn diesem ganzen Akt ist noch kein Philoktet zu sehen: noch weniger die Vorstel- lung von seinem körperlichen Schmerz Hauptidee. Sophokles hat in diesem Akt dreierlei Vorsicht, uns erst auf Philoktet lange vorzubereiten, ehe er auf- tritt: das Schwerste und Untheatralische in Er- zälung und nicht in Handlung zu zeigen: unser Herz und unsre Phantasie ihm zu sichern, damit wir erst -- auch nur seinen Anblick ertragen lernen. Und gleich als ob dieser noch nicht gnug vorbereitet wäre, muß den wilden Mann ein fern her murmelndes Ach anmelden, das sich nähert, und -- 1. Nun sind durch den Anblick der Fremden die Seufzer weg, völlig weg. Warum das? warum läßt sie Sophokles so ganz hinter der Scene? Erst muß er ihn nicht blos vor Verachtung sichern, son- dern seinem ganzen ersten Anblicke nach, ist Philoktet ein leidender Held. Jch weiß nicht, warum L. die-
Kritiſche Waͤlder. 2. Der Elende ſoll noch einen neuen Streich von der Liſt ſeines alten Feindes leiden: hier ſchwillt unſere Theilnehmung, und der Kontraſt zwiſchen Ulyſſes und Neoptolemus macht die ganze Scene menſchlich. 3. Der Chor und Neoptolem druͤcken die Pfeile des Mitleids tiefer in unſer Herz: ſie ſingen ſein Elend in vollem Maaße. Wie begierig ſind wir nun, den Mann zu ſehen, der hier in der wuͤſten Jn- fel eine beſondere Scene ſpielt, und auf den neues Ungluͤck lauert. Jn dieſem ganzen Akt iſt noch kein Philoktet zu ſehen: noch weniger die Vorſtel- lung von ſeinem koͤrperlichen Schmerz Hauptidee. Sophokles hat in dieſem Akt dreierlei Vorſicht, uns erſt auf Philoktet lange vorzubereiten, ehe er auf- tritt: das Schwerſte und Untheatraliſche in Er- zaͤlung und nicht in Handlung zu zeigen: unſer Herz und unſre Phantaſie ihm zu ſichern, damit wir erſt — auch nur ſeinen Anblick ertragen lernen. Und gleich als ob dieſer noch nicht gnug vorbereitet waͤre, muß den wilden Mann ein fern her murmelndes Ach anmelden, das ſich naͤhert, und — 1. Nun ſind durch den Anblick der Fremden die Seufzer weg, voͤllig weg. Warum das? warum laͤßt ſie Sophokles ſo ganz hinter der Scene? Erſt muß er ihn nicht blos vor Verachtung ſichern, ſon- dern ſeinem ganzen erſten Anblicke nach, iſt Philoktet ein leidender Held. Jch weiß nicht, warum L. die-
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Kritiſche Waͤlder.
2. Der Elende ſoll noch einen neuen Streich von
der Liſt ſeines alten Feindes leiden: hier ſchwillt
unſere Theilnehmung, und der Kontraſt zwiſchen
Ulyſſes und Neoptolemus macht die ganze Scene
menſchlich.
3. Der Chor und Neoptolem druͤcken die Pfeile
des Mitleids tiefer in unſer Herz: ſie ſingen ſein
Elend in vollem Maaße. Wie begierig ſind wir
nun, den Mann zu ſehen, der hier in der wuͤſten Jn-
fel eine beſondere Scene ſpielt, und auf den neues
Ungluͤck lauert. Jn dieſem ganzen Akt iſt noch
kein Philoktet zu ſehen: noch weniger die Vorſtel-
lung von ſeinem koͤrperlichen Schmerz Hauptidee.
Sophokles hat in dieſem Akt dreierlei Vorſicht, uns
erſt auf Philoktet lange vorzubereiten, ehe er auf-
tritt: das Schwerſte und Untheatraliſche in Er-
zaͤlung und nicht in Handlung zu zeigen: unſer Herz
und unſre Phantaſie ihm zu ſichern, damit wir erſt
— auch nur ſeinen Anblick ertragen lernen. Und
gleich als ob dieſer noch nicht gnug vorbereitet waͤre,
muß den wilden Mann ein fern her murmelndes
Ach anmelden, das ſich naͤhert, und —
1. Nun ſind durch den Anblick der Fremden die
Seufzer weg, voͤllig weg. Warum das? warum
laͤßt ſie Sophokles ſo ganz hinter der Scene? Erſt
muß er ihn nicht blos vor Verachtung ſichern, ſon-
dern ſeinem ganzen erſten Anblicke nach, iſt Philoktet
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