[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. sen. Wie wünscht er, daß sie Griechen wären:wie verlangt er, wieder einen griechischen Laut zu hö- ren! das ist ein ehrlicher Grieche, der kann Grie- chen interessiren. -- Er hört griechisch: der arme Philoktet hat für Freude all sein heftiges Weh ver- gessen. Er lernt den Sohn Achilles kennen, den Sohn seines zärtlichen Freundes: er wird offner; er erzält ihm seine Geschichte, rührend wie wenn die Penia seibst erschiene. Er ist ein Freund seiner Freunde: dem todten Achilles opfert er seine Zähre der Freundschaft; er vergißt sich selbst, und seufzet über einen Todten, der glücklicher ist, als er. Er ist ein Freund seiner Freunde; der Sohn des Achil- les sieht ihn herzlichen Antheil an sich nehmen, selbst da er ihn hintergeht. Er trauret um den Tod der Helden, und noch edler, er trauret blos deßwegen, weil sie brave Leute sind: die Nichtswürdigen ver- flucht er! Wie sehr hat uns nun Philoktet für sich interessirt, als Menschenfreund, als ein Grieche mit Leib und Seele, als ein Held. Und dieser Held soll hier, fern von dem Wetteifer mit andern Hel- den, auf einer wüsten Jnsel modern? Schmerzliche Abwesenheit, da jene Thaten thun, da jene mit Lorbeern starben, so soll er an einer Wunde ächzen, die ja keine Heldenwunde ist. Er, eine so griechi- sche Seele, muß fern von seinem Vaterlande, fern von seinem liebenden Vater, der vielleicht schon zu den Schatten gegangen, sein Leben verzehren: er ein
Kritiſche Waͤlder. ſen. Wie wuͤnſcht er, daß ſie Griechen waͤren:wie verlangt er, wieder einen griechiſchen Laut zu hoͤ- ren! das iſt ein ehrlicher Grieche, der kann Grie- chen intereſſiren. — Er hoͤrt griechiſch: der arme Philoktet hat fuͤr Freude all ſein heftiges Weh ver- geſſen. Er lernt den Sohn Achilles kennen, den Sohn ſeines zaͤrtlichen Freundes: er wird offner; er erzaͤlt ihm ſeine Geſchichte, ruͤhrend wie wenn die Penia ſeibſt erſchiene. Er iſt ein Freund ſeiner Freunde: dem todten Achilles opfert er ſeine Zaͤhre der Freundſchaft; er vergißt ſich ſelbſt, und ſeufzet uͤber einen Todten, der gluͤcklicher iſt, als er. Er iſt ein Freund ſeiner Freunde; der Sohn des Achil- les ſieht ihn herzlichen Antheil an ſich nehmen, ſelbſt da er ihn hintergeht. Er trauret um den Tod der Helden, und noch edler, er trauret blos deßwegen, weil ſie brave Leute ſind: die Nichtswuͤrdigen ver- flucht er! Wie ſehr hat uns nun Philoktet fuͤr ſich intereſſirt, als Menſchenfreund, als ein Grieche mit Leib und Seele, als ein Held. Und dieſer Held ſoll hier, fern von dem Wetteifer mit andern Hel- den, auf einer wuͤſten Jnſel modern? Schmerzliche Abweſenheit, da jene Thaten thun, da jene mit Lorbeern ſtarben, ſo ſoll er an einer Wunde aͤchzen, die ja keine Heldenwunde iſt. Er, eine ſo griechi- ſche Seele, muß fern von ſeinem Vaterlande, fern von ſeinem liebenden Vater, der vielleicht ſchon zu den Schatten gegangen, ſein Leben verzehren: er ein
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Kritiſche Waͤlder.
ſen. Wie wuͤnſcht er, daß ſie Griechen waͤren:
wie verlangt er, wieder einen griechiſchen Laut zu hoͤ-
ren! das iſt ein ehrlicher Grieche, der kann Grie-
chen intereſſiren. — Er hoͤrt griechiſch: der arme
Philoktet hat fuͤr Freude all ſein heftiges Weh ver-
geſſen. Er lernt den Sohn Achilles kennen, den
Sohn ſeines zaͤrtlichen Freundes: er wird offner; er
erzaͤlt ihm ſeine Geſchichte, ruͤhrend wie wenn die
Penia ſeibſt erſchiene. Er iſt ein Freund ſeiner
Freunde: dem todten Achilles opfert er ſeine Zaͤhre
der Freundſchaft; er vergißt ſich ſelbſt, und ſeufzet
uͤber einen Todten, der gluͤcklicher iſt, als er. Er
iſt ein Freund ſeiner Freunde; der Sohn des Achil-
les ſieht ihn herzlichen Antheil an ſich nehmen, ſelbſt
da er ihn hintergeht. Er trauret um den Tod der
Helden, und noch edler, er trauret blos deßwegen,
weil ſie brave Leute ſind: die Nichtswuͤrdigen ver-
flucht er! Wie ſehr hat uns nun Philoktet fuͤr ſich
intereſſirt, als Menſchenfreund, als ein Grieche mit
Leib und Seele, als ein Held. Und dieſer Held
ſoll hier, fern von dem Wetteifer mit andern Hel-
den, auf einer wuͤſten Jnſel modern? Schmerzliche
Abweſenheit, da jene Thaten thun, da jene mit
Lorbeern ſtarben, ſo ſoll er an einer Wunde aͤchzen,
die ja keine Heldenwunde iſt. Er, eine ſo griechi-
ſche Seele, muß fern von ſeinem Vaterlande, fern
von ſeinem liebenden Vater, der vielleicht ſchon zu
den Schatten gegangen, ſein Leben verzehren: er
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