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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Erstes Wäldchen.
mers -- er tritt auf! oder vielmehr er schleicht
sich hinan, um --

Nun wird er sich mit Gebrüll aufs Theater
werfen? zu schreien anfangen, daß Peter Squenz
sagen möchte: lieber Löwe, brülle noch einmal!
Wer doch den Kunstrichtern einmal das Gebrüll
ausreden könnte, von dem im Griechischen so wenig
Spur ist! Einen langen Aufzug durch a) spricht
Philoktet mit dem Fremden, ohne daß er aus
Schreien gedenkt: selbst das vorher von ferne tö-
nende Ach hat Sophokles hinter den Scenen gelas-
sen. Der weise Sophokles! wie wird mich der
Mann weibisch dünken, wie wird mir sein Ach!
verächtlich seyn können, daß er nur hin ächzte, da
er allein zu seyn glaubte, das er vor den Fremden
gleich verbirgt, und im Gespräche immer bergen
kann. Der Leidende ist ein Held.

Und für diesen Charakter sorgt Sophokles ge-
nau. Er muß sich erst mehr zum Feunde unsrer
Seele machen b), ehe unser Körper sympathisiren
könnte, und wie bekümmert ist der Arme um die
Fremden? Nichts vermuthet er weniger, als daß sie
ihm nachstelleten; der Gutherzige hält sie für Ver-
schlagne, für solche, die seines Theilnehmens werth
wären -- der Menschenfreund! Er sieht die grie-
chischen Kleider; ein böses Erinnerungszeichen für ihn
an die treulosen Griechen; aber dieß hat er verges-

sen.
a) Aufzug 2.
b) Aufz. 2. Auftr. 1.

Erſtes Waͤldchen.
mers — er tritt auf! oder vielmehr er ſchleicht
ſich hinan, um —

Nun wird er ſich mit Gebruͤll aufs Theater
werfen? zu ſchreien anfangen, daß Peter Squenz
ſagen moͤchte: lieber Loͤwe, bruͤlle noch einmal!
Wer doch den Kunſtrichtern einmal das Gebruͤll
ausreden koͤnnte, von dem im Griechiſchen ſo wenig
Spur iſt! Einen langen Aufzug durch a) ſpricht
Philoktet mit dem Fremden, ohne daß er aus
Schreien gedenkt: ſelbſt das vorher von ferne toͤ-
nende Ach hat Sophokles hinter den Scenen gelaſ-
ſen. Der weiſe Sophokles! wie wird mich der
Mann weibiſch duͤnken, wie wird mir ſein Ach!
veraͤchtlich ſeyn koͤnnen, daß er nur hin aͤchzte, da
er allein zu ſeyn glaubte, das er vor den Fremden
gleich verbirgt, und im Geſpraͤche immer bergen
kann. Der Leidende iſt ein Held.

Und fuͤr dieſen Charakter ſorgt Sophokles ge-
nau. Er muß ſich erſt mehr zum Feunde unſrer
Seele machen b), ehe unſer Koͤrper ſympathiſiren
koͤnnte, und wie bekuͤmmert iſt der Arme um die
Fremden? Nichts vermuthet er weniger, als daß ſie
ihm nachſtelleten; der Gutherzige haͤlt ſie fuͤr Ver-
ſchlagne, fuͤr ſolche, die ſeines Theilnehmens werth
waͤren — der Menſchenfreund! Er ſieht die grie-
chiſchen Kleider; ein boͤſes Erinnerungszeichen fuͤr ihn
an die treuloſen Griechen; aber dieß hat er vergeſ-

ſen.
a) Aufzug 2.
b) Aufz. 2. Auftr. 1.
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[59/0065] Erſtes Waͤldchen. mers — er tritt auf! oder vielmehr er ſchleicht ſich hinan, um — Nun wird er ſich mit Gebruͤll aufs Theater werfen? zu ſchreien anfangen, daß Peter Squenz ſagen moͤchte: lieber Loͤwe, bruͤlle noch einmal! Wer doch den Kunſtrichtern einmal das Gebruͤll ausreden koͤnnte, von dem im Griechiſchen ſo wenig Spur iſt! Einen langen Aufzug durch a) ſpricht Philoktet mit dem Fremden, ohne daß er aus Schreien gedenkt: ſelbſt das vorher von ferne toͤ- nende Ach hat Sophokles hinter den Scenen gelaſ- ſen. Der weiſe Sophokles! wie wird mich der Mann weibiſch duͤnken, wie wird mir ſein Ach! veraͤchtlich ſeyn koͤnnen, daß er nur hin aͤchzte, da er allein zu ſeyn glaubte, das er vor den Fremden gleich verbirgt, und im Geſpraͤche immer bergen kann. Der Leidende iſt ein Held. Und fuͤr dieſen Charakter ſorgt Sophokles ge- nau. Er muß ſich erſt mehr zum Feunde unſrer Seele machen b), ehe unſer Koͤrper ſympathiſiren koͤnnte, und wie bekuͤmmert iſt der Arme um die Fremden? Nichts vermuthet er weniger, als daß ſie ihm nachſtelleten; der Gutherzige haͤlt ſie fuͤr Ver- ſchlagne, fuͤr ſolche, die ſeines Theilnehmens werth waͤren — der Menſchenfreund! Er ſieht die grie- chiſchen Kleider; ein boͤſes Erinnerungszeichen fuͤr ihn an die treuloſen Griechen; aber dieß hat er vergeſ- ſen. a) Aufzug 2. b) Aufz. 2. Auftr. 1.

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/65>, abgerufen am 09.05.2024.