[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. nicht blos der schlaue, der verschlagene Ulysses Ho-mers: er ist ein Verführer, der offenbar Grundsätze der Treulosigkeit verräth, die alle Tugend übern Haufen werfen, und pfui des Bösewichts! bei dem das Laster schon zur Sprache durch Grundsätze ge- worden. Sophokles also will lieber die Vorwürfe der Moralitäts-Pedanten auf sich nehmen, die jeden Ausspruch von der Bühne zu einem Sittenspruche des Pythagoras haben wollen: er mahlt seinen Ulys- ses lieber schwärzer, als er sonst zu mahlen pflegt -- um uns nur desto mehr für den armen Philok- tet einzunehmen, der von ihm hintergangen ist, und hintergangen werden soll. Der Chor und Neoptolem sind nun a) beschäff- mers a) Auftr. 3.
Kritiſche Waͤlder. nicht blos der ſchlaue, der verſchlagene Ulyſſes Ho-mers: er iſt ein Verfuͤhrer, der offenbar Grundſaͤtze der Treuloſigkeit verraͤth, die alle Tugend uͤbern Haufen werfen, und pfui des Boͤſewichts! bei dem das Laſter ſchon zur Sprache durch Grundſaͤtze ge- worden. Sophokles alſo will lieber die Vorwuͤrfe der Moralitaͤts-Pedanten auf ſich nehmen, die jeden Ausſpruch von der Buͤhne zu einem Sittenſpruche des Pythagoras haben wollen: er mahlt ſeinen Ulyſ- ſes lieber ſchwaͤrzer, als er ſonſt zu mahlen pflegt — um uns nur deſto mehr fuͤr den armen Philok- tet einzunehmen, der von ihm hintergangen iſt, und hintergangen werden ſoll. Der Chor und Neoptolem ſind nun a) beſchaͤff- mers a) Auftr. 3.
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Kritiſche Waͤlder.
nicht blos der ſchlaue, der verſchlagene Ulyſſes Ho-
mers: er iſt ein Verfuͤhrer, der offenbar Grundſaͤtze
der Treuloſigkeit verraͤth, die alle Tugend uͤbern
Haufen werfen, und pfui des Boͤſewichts! bei dem
das Laſter ſchon zur Sprache durch Grundſaͤtze ge-
worden. Sophokles alſo will lieber die Vorwuͤrfe
der Moralitaͤts-Pedanten auf ſich nehmen, die jeden
Ausſpruch von der Buͤhne zu einem Sittenſpruche
des Pythagoras haben wollen: er mahlt ſeinen Ulyſ-
ſes lieber ſchwaͤrzer, als er ſonſt zu mahlen pflegt
— um uns nur deſto mehr fuͤr den armen Philok-
tet einzunehmen, der von ihm hintergangen iſt,
und hintergangen werden ſoll.
Der Chor und Neoptolem ſind nun a) beſchaͤff-
tigt, dieſes Mitleid fuͤr Philoktet tiefer in uns zu
praͤgen; ſie wiederholen die vorigen Jammerzuͤge,
vermehren ſie durch Vermuthungen und — —
da laͤßt ſich von weitem ein Aechzen hoͤren! Daß es
ein Aechzen und kein Gebruͤll ſey, zeigt das Betra-
gen Neoptolems, der, uͤber dem mit ſeinem Auf-
trage beſtuͤrzt, nicht weiß, woher es kommt? das
Ach kommt naͤher, es wird ein Wimmern, ein tie-
fes klaͤgliches Ach — nun iſts erſt vernehmlich!
Sie haben ſich nicht geirrt: Philoktet muß kom-
men, und ach! der Hirte kommt mit einem Tone der
Schalmey, und Philoktet mit einem Tone des Jam-
mers
a) Auftr. 3.
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