1. Nicht jedes Volk hat für milde Betrübnisse ein gleich zartes Herz; bei manchem haben selbst die Klagen eine rohe Vestigkeit, ein heldenmäßiges Brausen, in welches sie verschlungen werden, und ein solches wird, bei sonst großen Dichtern, mit der Sprache dieser weichen Thränen sehr unbekannt seyn können. So die nordischen Skandinavier, die auch bei Trauerfällen vom Heroismus gestält, kaum kurze Seufzer ausstießen und -- schwiegen; wenn sie sangen, so war ihr Gesang kaum die milde ele- gische Thräne.
Der König Regner Lodbrog stirbt a): er stirbt unter den entsetzlichsten Schmerzen. Stirbt er in Elegien? Läßt er der gequälten sterbenden Menschheit, dem von seinen Söhnen entfernten brechenden Vaterherze sein Recht wiederfahren? Ei- ne einzige weiche Thräne hätte den Nachfolger Odins entweihet. Er stirbt im Triumphsliede, im Andenken an seine Thaten, voll Heldenfreude, voll Rache, voll Muth, voll himmlischer Hoffnung. "Wir haben mit Säbelstreichen gefochten, so endet "sein Gesang, o wüßten meine Söhne die Plagen, "die ich erdulde; wüßten sie, daß gistige Nattern "mir den Busen zerfleischen -- wie heftig würden "sie sich nach grausamen Schlachten sehnen! Denn "die Mutter, die ich ihnen gab, hat ihnen ein männ- "liches Herz hinterlassen.
"Wir
a) Mallets Geschichte von Dännem. p. 112. 113.
C
Erſtes Waͤldchen.
1. Nicht jedes Volk hat fuͤr milde Betruͤbniſſe ein gleich zartes Herz; bei manchem haben ſelbſt die Klagen eine rohe Veſtigkeit, ein heldenmaͤßiges Brauſen, in welches ſie verſchlungen werden, und ein ſolches wird, bei ſonſt großen Dichtern, mit der Sprache dieſer weichen Thraͤnen ſehr unbekannt ſeyn koͤnnen. So die nordiſchen Skandinavier, die auch bei Trauerfaͤllen vom Heroismus geſtaͤlt, kaum kurze Seufzer ausſtießen und — ſchwiegen; wenn ſie ſangen, ſo war ihr Geſang kaum die milde ele- giſche Thraͤne.
Der Koͤnig Regner Lodbrog ſtirbt a): er ſtirbt unter den entſetzlichſten Schmerzen. Stirbt er in Elegien? Laͤßt er der gequaͤlten ſterbenden Menſchheit, dem von ſeinen Soͤhnen entfernten brechenden Vaterherze ſein Recht wiederfahren? Ei- ne einzige weiche Thraͤne haͤtte den Nachfolger Odins entweihet. Er ſtirbt im Triumphsliede, im Andenken an ſeine Thaten, voll Heldenfreude, voll Rache, voll Muth, voll himmliſcher Hoffnung. „Wir haben mit Saͤbelſtreichen gefochten, ſo endet „ſein Geſang, o wuͤßten meine Soͤhne die Plagen, „die ich erdulde; wuͤßten ſie, daß giſtige Nattern „mir den Buſen zerfleiſchen — wie heftig wuͤrden „ſie ſich nach grauſamen Schlachten ſehnen! Denn „die Mutter, die ich ihnen gab, hat ihnen ein maͤnn- „liches Herz hinterlaſſen.
„Wir
a) Mallets Geſchichte von Daͤnnem. p. 112. 113.
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Erſtes Waͤldchen.
1. Nicht jedes Volk hat fuͤr milde Betruͤbniſſe
ein gleich zartes Herz; bei manchem haben ſelbſt
die Klagen eine rohe Veſtigkeit, ein heldenmaͤßiges
Brauſen, in welches ſie verſchlungen werden, und
ein ſolches wird, bei ſonſt großen Dichtern, mit
der Sprache dieſer weichen Thraͤnen ſehr unbekannt
ſeyn koͤnnen. So die nordiſchen Skandinavier, die
auch bei Trauerfaͤllen vom Heroismus geſtaͤlt, kaum
kurze Seufzer ausſtießen und — ſchwiegen; wenn
ſie ſangen, ſo war ihr Geſang kaum die milde ele-
giſche Thraͤne.
Der Koͤnig Regner Lodbrog ſtirbt a): er
ſtirbt unter den entſetzlichſten Schmerzen. Stirbt er
in Elegien? Laͤßt er der gequaͤlten ſterbenden
Menſchheit, dem von ſeinen Soͤhnen entfernten
brechenden Vaterherze ſein Recht wiederfahren? Ei-
ne einzige weiche Thraͤne haͤtte den Nachfolger
Odins entweihet. Er ſtirbt im Triumphsliede,
im Andenken an ſeine Thaten, voll Heldenfreude,
voll Rache, voll Muth, voll himmliſcher Hoffnung.
„Wir haben mit Saͤbelſtreichen gefochten, ſo endet
„ſein Geſang, o wuͤßten meine Soͤhne die Plagen,
„die ich erdulde; wuͤßten ſie, daß giſtige Nattern
„mir den Buſen zerfleiſchen — wie heftig wuͤrden
„ſie ſich nach grauſamen Schlachten ſehnen! Denn
„die Mutter, die ich ihnen gab, hat ihnen ein maͤnn-
„liches Herz hinterlaſſen.
„Wir
a) Mallets Geſchichte von Daͤnnem. p. 112. 113.
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/39>, abgerufen am 16.07.2024.
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