Gerade also das Gegentheil! -- Doch aus solchen Deutungen kann man immer machen, was man will, und eine bloße Allegorie; "der Sinn des Dich- "ters geht tiefer" kann uns endlich so tief führen, daß der Boden sinkt.
Die ganze Dichtkunst der Griechen hat zu viel Spuren dieser Empfindbarkeit ihrer Nation zu Schmerz und Thränen, als daß man bloß muth- maßen dörfte, und sie ist einem großen Theile nach gleichsam ein ganzer lebender Abdruck dieses Gefühls, dieser weichen Seele. Lasset uns diesen Theil die elegische Poesie nennen; aber niemand ver- stehe hier unter diesem Namen jenen hinkenden Af- fen, der sich nach unsern weisen Lehrbüchern der Poesie bloß im Sylbenmaas unterscheiden soll: sondern Elegie sei mir hier die klagende Dichtkunst, die versus querimoniae nach Horaz, sie mögen sich finden, wo sie wollen, in Epopee und Ode, in Trauerspiel, oder Jdylle; denn jede dieser Gattun- gen kann Elegisch werden. Jn solchem Verstande hat die Elegie ein eignes Gebiet in der menschlichen Seele, nämlich die Empfindbarkeit des Schmerzes und der Betrübniß: man kann also aus ihr über Völker und Zeiten hinaus sehen, und hier wird sich durch Vergleichungen auch die den Griechen eigne Stelle finden. Jch stecke einige Gesichts- punkte ab.
1. Nicht
Kritiſche Waͤlder.
Gerade alſo das Gegentheil! — Doch aus ſolchen Deutungen kann man immer machen, was man will, und eine bloße Allegorie; „der Sinn des Dich- „ters geht tiefer„ kann uns endlich ſo tief fuͤhren, daß der Boden ſinkt.
Die ganze Dichtkunſt der Griechen hat zu viel Spuren dieſer Empfindbarkeit ihrer Nation zu Schmerz und Thraͤnen, als daß man bloß muth- maßen doͤrfte, und ſie iſt einem großen Theile nach gleichſam ein ganzer lebender Abdruck dieſes Gefuͤhls, dieſer weichen Seele. Laſſet uns dieſen Theil die elegiſche Poeſie nennen; aber niemand ver- ſtehe hier unter dieſem Namen jenen hinkenden Af- fen, der ſich nach unſern weiſen Lehrbuͤchern der Poeſie bloß im Sylbenmaas unterſcheiden ſoll: ſondern Elegie ſei mir hier die klagende Dichtkunſt, die verſus querimoniae nach Horaz, ſie moͤgen ſich finden, wo ſie wollen, in Epopee und Ode, in Trauerſpiel, oder Jdylle; denn jede dieſer Gattun- gen kann Elegiſch werden. Jn ſolchem Verſtande hat die Elegie ein eignes Gebiet in der menſchlichen Seele, naͤmlich die Empfindbarkeit des Schmerzes und der Betruͤbniß: man kann alſo aus ihr uͤber Voͤlker und Zeiten hinaus ſehen, und hier wird ſich durch Vergleichungen auch die den Griechen eigne Stelle finden. Jch ſtecke einige Geſichts- punkte ab.
1. Nicht
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Kritiſche Waͤlder.
Gerade alſo das Gegentheil! — Doch aus ſolchen
Deutungen kann man immer machen, was man
will, und eine bloße Allegorie; „der Sinn des Dich-
„ters geht tiefer„ kann uns endlich ſo tief fuͤhren, daß
der Boden ſinkt.
Die ganze Dichtkunſt der Griechen hat zu viel
Spuren dieſer Empfindbarkeit ihrer Nation zu
Schmerz und Thraͤnen, als daß man bloß muth-
maßen doͤrfte, und ſie iſt einem großen Theile
nach gleichſam ein ganzer lebender Abdruck dieſes
Gefuͤhls, dieſer weichen Seele. Laſſet uns dieſen
Theil die elegiſche Poeſie nennen; aber niemand ver-
ſtehe hier unter dieſem Namen jenen hinkenden Af-
fen, der ſich nach unſern weiſen Lehrbuͤchern der
Poeſie bloß im Sylbenmaas unterſcheiden ſoll:
ſondern Elegie ſei mir hier die klagende Dichtkunſt,
die verſus querimoniae nach Horaz, ſie moͤgen ſich
finden, wo ſie wollen, in Epopee und Ode, in
Trauerſpiel, oder Jdylle; denn jede dieſer Gattun-
gen kann Elegiſch werden. Jn ſolchem Verſtande
hat die Elegie ein eignes Gebiet in der menſchlichen
Seele, naͤmlich die Empfindbarkeit des Schmerzes
und der Betruͤbniß: man kann alſo aus ihr uͤber
Voͤlker und Zeiten hinaus ſehen, und hier wird ſich
durch Vergleichungen auch die den Griechen
eigne Stelle finden. Jch ſtecke einige Geſichts-
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/38>, abgerufen am 16.07.2024.
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