Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
menschen sind die Helden Homers, und je größerer
Held, je größerer Unmensch: sein Achilles ist sogar
am Körper unverletzlich.

Jsts also bei Homer, daß seine Helden schreien
und weinen müssen "um der menschlichen Natur
"treu zu bleiben, wenn es auf das Gefühl der
"Schmerzen, wenn es auf die Aeußerung dieses
"Gefühls durch Schreien oder durch Thränen an-
"kommt?" a) Jch wollte nicht, daß ein alter
Grieche, dessen Heldenseele, als ein seliger Dämon
noch in der Welt unsichtbar wandelte, diese Behau-
ptung läse. Was? würde er sagen, was ist wohl
einem in die Schlacht ziehenden Helden natürlicher,
als verwundet, getroffen werden; sich fürchten also
kann er, wenn ihn ein unvermutheter Pfeil trifft;
aber in der Schlacht schreien und weinen, das thut
kein homerischer Held der Griechen; selbst kein Held
der Trojaner, die doch immer Homer in kleinen Zü-
gen herunter setzt. Einem Hektor b) in seinem
Tode entsinkt, selbst bei seiner letzten sterbenden Bit-
te, keine Thräne, kein Ton des Geschreies: ein
Sarpedon c) knirscht, da er stirbt, und je tapferer,
um so gefaßter bei dem Schmerze. Nur die Fei-
gen zittern und weinen und schreien: Pherekles, der
feige Flüchtling, und die weichliche Venus, und

der
a) Laok. pag. 5.
b) Iliad. Kh. v. 330. &c.
c) Iliad. P. v. 586.

Kritiſche Waͤlder.
menſchen ſind die Helden Homers, und je groͤßerer
Held, je groͤßerer Unmenſch: ſein Achilles iſt ſogar
am Koͤrper unverletzlich.

Jſts alſo bei Homer, daß ſeine Helden ſchreien
und weinen muͤſſen „um der menſchlichen Natur
„treu zu bleiben, wenn es auf das Gefuͤhl der
„Schmerzen, wenn es auf die Aeußerung dieſes
„Gefuͤhls durch Schreien oder durch Thraͤnen an-
„kommt?„ a) Jch wollte nicht, daß ein alter
Grieche, deſſen Heldenſeele, als ein ſeliger Daͤmon
noch in der Welt unſichtbar wandelte, dieſe Behau-
ptung laͤſe. Was? wuͤrde er ſagen, was iſt wohl
einem in die Schlacht ziehenden Helden natuͤrlicher,
als verwundet, getroffen werden; ſich fuͤrchten alſo
kann er, wenn ihn ein unvermutheter Pfeil trifft;
aber in der Schlacht ſchreien und weinen, das thut
kein homeriſcher Held der Griechen; ſelbſt kein Held
der Trojaner, die doch immer Homer in kleinen Zuͤ-
gen herunter ſetzt. Einem Hektor b) in ſeinem
Tode entſinkt, ſelbſt bei ſeiner letzten ſterbenden Bit-
te, keine Thraͤne, kein Ton des Geſchreies: ein
Sarpedon c) knirſcht, da er ſtirbt, und je tapferer,
um ſo gefaßter bei dem Schmerze. Nur die Fei-
gen zittern und weinen und ſchreien: Pherekles, der
feige Fluͤchtling, und die weichliche Venus, und

der
a) Laok. pag. 5.
b) Iliad. Χ. v. 330. &c.
c) Iliad. Π. v. 586.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0034" n="28"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
men&#x017F;chen &#x017F;ind die Helden Homers, und je gro&#x0364;ßerer<lb/>
Held, je gro&#x0364;ßerer Unmen&#x017F;ch: &#x017F;ein Achilles i&#x017F;t &#x017F;ogar<lb/>
am Ko&#x0364;rper unverletzlich.</p><lb/>
          <p>J&#x017F;ts al&#x017F;o bei Homer, daß &#x017F;eine Helden &#x017F;chreien<lb/>
und weinen <hi rendition="#fr">mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en</hi> &#x201E;um der men&#x017F;chlichen Natur<lb/>
&#x201E;treu zu bleiben, wenn es auf das Gefu&#x0364;hl der<lb/>
&#x201E;Schmerzen, wenn es auf die Aeußerung die&#x017F;es<lb/>
&#x201E;Gefu&#x0364;hls durch Schreien oder durch Thra&#x0364;nen an-<lb/>
&#x201E;kommt?&#x201E; <note place="foot" n="a)">Laok. pag. 5.</note> Jch wollte nicht, daß ein alter<lb/>
Grieche, de&#x017F;&#x017F;en Helden&#x017F;eele, als ein &#x017F;eliger Da&#x0364;mon<lb/>
noch in der Welt un&#x017F;ichtbar wandelte, die&#x017F;e Behau-<lb/>
ptung la&#x0364;&#x017F;e. Was? wu&#x0364;rde er &#x017F;agen, was i&#x017F;t wohl<lb/>
einem in die Schlacht ziehenden Helden natu&#x0364;rlicher,<lb/>
als verwundet, getroffen werden; &#x017F;ich fu&#x0364;rchten al&#x017F;o<lb/>
kann er, wenn ihn ein unvermutheter Pfeil trifft;<lb/>
aber in der Schlacht &#x017F;chreien und weinen, das thut<lb/>
kein homeri&#x017F;cher Held der Griechen; &#x017F;elb&#x017F;t kein Held<lb/>
der Trojaner, die doch immer Homer in kleinen Zu&#x0364;-<lb/>
gen herunter &#x017F;etzt. Einem Hektor <note place="foot" n="b)"><hi rendition="#aq">Iliad.</hi> &#x03A7;. <hi rendition="#aq">v.</hi> 330. <hi rendition="#aq">&amp;c.</hi></note> in &#x017F;einem<lb/>
Tode ent&#x017F;inkt, &#x017F;elb&#x017F;t bei &#x017F;einer letzten &#x017F;terbenden Bit-<lb/>
te, keine Thra&#x0364;ne, kein Ton des Ge&#x017F;chreies: ein<lb/>
Sarpedon <note place="foot" n="c)"><hi rendition="#aq">Iliad.</hi> &#x03A0;. <hi rendition="#aq">v.</hi> 586.</note> knir&#x017F;cht, da er &#x017F;tirbt, und je tapferer,<lb/>
um &#x017F;o gefaßter bei dem Schmerze. Nur die Fei-<lb/>
gen zittern und weinen und &#x017F;chreien: Pherekles, der<lb/>
feige Flu&#x0364;chtling, und die weichliche Venus, und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[28/0034] Kritiſche Waͤlder. menſchen ſind die Helden Homers, und je groͤßerer Held, je groͤßerer Unmenſch: ſein Achilles iſt ſogar am Koͤrper unverletzlich. Jſts alſo bei Homer, daß ſeine Helden ſchreien und weinen muͤſſen „um der menſchlichen Natur „treu zu bleiben, wenn es auf das Gefuͤhl der „Schmerzen, wenn es auf die Aeußerung dieſes „Gefuͤhls durch Schreien oder durch Thraͤnen an- „kommt?„ a) Jch wollte nicht, daß ein alter Grieche, deſſen Heldenſeele, als ein ſeliger Daͤmon noch in der Welt unſichtbar wandelte, dieſe Behau- ptung laͤſe. Was? wuͤrde er ſagen, was iſt wohl einem in die Schlacht ziehenden Helden natuͤrlicher, als verwundet, getroffen werden; ſich fuͤrchten alſo kann er, wenn ihn ein unvermutheter Pfeil trifft; aber in der Schlacht ſchreien und weinen, das thut kein homeriſcher Held der Griechen; ſelbſt kein Held der Trojaner, die doch immer Homer in kleinen Zuͤ- gen herunter ſetzt. Einem Hektor b) in ſeinem Tode entſinkt, ſelbſt bei ſeiner letzten ſterbenden Bit- te, keine Thraͤne, kein Ton des Geſchreies: ein Sarpedon c) knirſcht, da er ſtirbt, und je tapferer, um ſo gefaßter bei dem Schmerze. Nur die Fei- gen zittern und weinen und ſchreien: Pherekles, der feige Fluͤchtling, und die weichliche Venus, und der a) Laok. pag. 5. b) Iliad. Χ. v. 330. &c. c) Iliad. Π. v. 586.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/34
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/34>, abgerufen am 27.04.2024.