sten Ausdruck zu suchen, und dem übertriebnen Ausdruck zu entweichen. Und das sagt Win- kelmann!
Allerdings ist Schreien der natürliche Aus- druck des körperlichen Schmerzes a): nur jede Kunst der Nachahmung, und so darf ich auch sa- gen, jede Gedichtart, hat in Nachahmung dieses Ausdruckes ihre eigenen Gränzen. Wie abwech- selnd ist Homer in der Art, wie seine Krieger, seine Helden niederfallen, und wie wiederholend in dem, was den Niederfallenden und Sterbenden gemein ist; aber weder jene Abwechselung, noch diese Wie- derholung macht mir das leßingsche Wort verständ- lich: "Homers Krieger fallen nicht selten mit Ge- "schrei zu Boden b)!" Sehr selten, möchte ich sagen, (wenn mich nicht mein Gedächtniß aus Ho- mer trügt) und fast gar nicht, außer wenn eine nähere Bestimmung dieses Charakters es fodert. So gewöhnlich ihm ist, das sein Krieger mit klir- renden Waffen, mit bebendem Boden u. s. w. fällt und stirbt, indem ihm Dunkelheit die Au- gen decktc); so ungewöhnlich fällt und stirbt einer mit Geschrei, mit Heulen: und alsdenn ist dieß nicht "der natürliche Eindruck des körperlichen "Schmerzes" sondern ein Charakterzug seines
Verwun-
a) Laok. pag. 4.
b) Laok. pag. 4.
c) Amphi d' osse kelaine nux ekalups[fremdsprachliches Material - Zeichen fehlt].
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Erſtes Waͤldchen.
ſten Ausdruck zu ſuchen, und dem uͤbertriebnen Ausdruck zu entweichen. Und das ſagt Win- kelmann!
Allerdings iſt Schreien der natuͤrliche Aus- druck des koͤrperlichen Schmerzes a): nur jede Kunſt der Nachahmung, und ſo darf ich auch ſa- gen, jede Gedichtart, hat in Nachahmung dieſes Ausdruckes ihre eigenen Graͤnzen. Wie abwech- ſelnd iſt Homer in der Art, wie ſeine Krieger, ſeine Helden niederfallen, und wie wiederholend in dem, was den Niederfallenden und Sterbenden gemein iſt; aber weder jene Abwechſelung, noch dieſe Wie- derholung macht mir das leßingſche Wort verſtaͤnd- lich: „Homers Krieger fallen nicht ſelten mit Ge- „ſchrei zu Boden b)!„ Sehr ſelten, moͤchte ich ſagen, (wenn mich nicht mein Gedaͤchtniß aus Ho- mer truͤgt) und faſt gar nicht, außer wenn eine naͤhere Beſtimmung dieſes Charakters es fodert. So gewoͤhnlich ihm iſt, das ſein Krieger mit klir- renden Waffen, mit bebendem Boden u. ſ. w. faͤllt und ſtirbt, indem ihm Dunkelheit die Au- gen decktc); ſo ungewoͤhnlich faͤllt und ſtirbt einer mit Geſchrei, mit Heulen: und alsdenn iſt dieß nicht „der natuͤrliche Eindruck des koͤrperlichen „Schmerzes„ ſondern ein Charakterzug ſeines
Verwun-
a) Laok. pag. 4.
b) Laok. pag. 4.
c) Αμφι δ’ οσσε κελαινη νυξ εκαλυψ[fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt].
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Erſtes Waͤldchen.
ſten Ausdruck zu ſuchen, und dem uͤbertriebnen
Ausdruck zu entweichen. Und das ſagt Win-
kelmann!
Allerdings iſt Schreien der natuͤrliche Aus-
druck des koͤrperlichen Schmerzes a): nur jede
Kunſt der Nachahmung, und ſo darf ich auch ſa-
gen, jede Gedichtart, hat in Nachahmung dieſes
Ausdruckes ihre eigenen Graͤnzen. Wie abwech-
ſelnd iſt Homer in der Art, wie ſeine Krieger, ſeine
Helden niederfallen, und wie wiederholend in dem,
was den Niederfallenden und Sterbenden gemein
iſt; aber weder jene Abwechſelung, noch dieſe Wie-
derholung macht mir das leßingſche Wort verſtaͤnd-
lich: „Homers Krieger fallen nicht ſelten mit Ge-
„ſchrei zu Boden b)!„ Sehr ſelten, moͤchte ich
ſagen, (wenn mich nicht mein Gedaͤchtniß aus Ho-
mer truͤgt) und faſt gar nicht, außer wenn eine
naͤhere Beſtimmung dieſes Charakters es fodert.
So gewoͤhnlich ihm iſt, das ſein Krieger mit klir-
renden Waffen, mit bebendem Boden u. ſ. w.
faͤllt und ſtirbt, indem ihm Dunkelheit die Au-
gen deckt c); ſo ungewoͤhnlich faͤllt und ſtirbt einer
mit Geſchrei, mit Heulen: und alsdenn iſt dieß
nicht „der natuͤrliche Eindruck des koͤrperlichen
„Schmerzes„ ſondern ein Charakterzug ſeines
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a) Laok. pag. 4.
b) Laok. pag. 4.
c) Αμφι δ’ οσσε κελαινη νυξ εκαλυψ_ .
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/29>, abgerufen am 16.02.2025.
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