[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. tes nicht mit Folgetöne zu schildern? Jch sehe Rä-der, Achsen, Sitz, Deichsel, Riemen, Stränge, nicht wie es beisammen ist, sondern erst langsam zu- sammenkommt. Erst werden mir die Räder, nicht blos die Räder, sondern die Theile derselben, die ehernen Speichen und die goldnen Felgen, und die Schienen von Erzt, und die silberne Nabe u. s. w. langsam vorgezält, denn erst Achsen, denn erst der Sitz, alles in seinen Theilen; und ehe das letzte Stück dran ist, habe ich sicherlich das Erste vergessen. Der Wagen steht zusammen: und Trotz der Phantasie, die sich jetzt das Bild des Wagens mit Einem Blicke und doch in allen seinen Theilen z. E. die eher- nen Speichen und die goldnen Felgen, und die Schie- nen von Erzt u. s. w. auf Einmal anschauend denken könne! Jch sehe also kaum, was Homer gethan hätte, um gleichsam die Wirkung successiver Töne zu schwä- chen, um durch unzälige Kunstgriffe uns das Coexsistente gegenwärtig zu machen? Liegt es hier einmal am klaren Begriffe des Coexsistiven in allen sei- nen Theilen, "welche größere Mühe, welche schär- "sere Anstrengung kostet es, diese langsamen Eindrü- "cke alle in eben der Ordnung so lebhaft zu erneuren, "sie nur mit einer mäßigen Geschwindigkeit auf "einmal zu überdenken, um zu einem etwanigen "Begriffe des Ganzen zu gelangen." Arbeitete der Dichter auf diesen Begriff des Ganzen, da er uns seine Theile zerlegte, um ihn nachher in allen diesen Thei- O 3
Erſtes Waͤldchen. tes nicht mit Folgetoͤne zu ſchildern? Jch ſehe Raͤ-der, Achſen, Sitz, Deichſel, Riemen, Straͤnge, nicht wie es beiſammen iſt, ſondern erſt langſam zu- ſammenkommt. Erſt werden mir die Raͤder, nicht blos die Raͤder, ſondern die Theile derſelben, die ehernen Speichen und die goldnen Felgen, und die Schienen von Erzt, und die ſilberne Nabe u. ſ. w. langſam vorgezaͤlt, denn erſt Achſen, denn erſt der Sitz, alles in ſeinen Theilen; und ehe das letzte Stuͤck dran iſt, habe ich ſicherlich das Erſte vergeſſen. Der Wagen ſteht zuſammen: und Trotz der Phantaſie, die ſich jetzt das Bild des Wagens mit Einem Blicke und doch in allen ſeinen Theilen z. E. die eher- nen Speichen und die goldnen Felgen, und die Schie- nen von Erzt u. ſ. w. auf Einmal anſchauend denken koͤnne! Jch ſehe alſo kaum, was Homer gethan haͤtte, um gleichſam die Wirkung ſucceſſiver Toͤne zu ſchwaͤ- chen, um durch unzaͤlige Kunſtgriffe uns das Coexſiſtente gegenwaͤrtig zu machen? Liegt es hier einmal am klaren Begriffe des Coexſiſtiven in allen ſei- nen Theilen, „welche groͤßere Muͤhe, welche ſchaͤr- „ſere Anſtrengung koſtet es, dieſe langſamen Eindruͤ- „cke alle in eben der Ordnung ſo lebhaft zu erneuren, „ſie nur mit einer maͤßigen Geſchwindigkeit auf „einmal zu uͤberdenken, um zu einem etwanigen „Begriffe des Ganzen zu gelangen.„ Arbeitete der Dichter auf dieſen Begriff des Ganzen, da er uns ſeine Theile zerlegte, um ihn nachher in allen dieſen Thei- O 3
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Erſtes Waͤldchen.
tes nicht mit Folgetoͤne zu ſchildern? Jch ſehe Raͤ-
der, Achſen, Sitz, Deichſel, Riemen, Straͤnge, nicht
wie es beiſammen iſt, ſondern erſt langſam zu-
ſammenkommt. Erſt werden mir die Raͤder,
nicht blos die Raͤder, ſondern die Theile derſelben,
die ehernen Speichen und die goldnen Felgen, und
die Schienen von Erzt, und die ſilberne Nabe u. ſ. w.
langſam vorgezaͤlt, denn erſt Achſen, denn erſt der
Sitz, alles in ſeinen Theilen; und ehe das letzte Stuͤck
dran iſt, habe ich ſicherlich das Erſte vergeſſen. Der
Wagen ſteht zuſammen: und Trotz der Phantaſie,
die ſich jetzt das Bild des Wagens mit Einem
Blicke und doch in allen ſeinen Theilen z. E. die eher-
nen Speichen und die goldnen Felgen, und die Schie-
nen von Erzt u. ſ. w. auf Einmal anſchauend denken
koͤnne! Jch ſehe alſo kaum, was Homer gethan haͤtte,
um gleichſam die Wirkung ſucceſſiver Toͤne zu ſchwaͤ-
chen, um durch unzaͤlige Kunſtgriffe uns das
Coexſiſtente gegenwaͤrtig zu machen? Liegt es hier
einmal am klaren Begriffe des Coexſiſtiven in allen ſei-
nen Theilen, „welche groͤßere Muͤhe, welche ſchaͤr-
„ſere Anſtrengung koſtet es, dieſe langſamen Eindruͤ-
„cke alle in eben der Ordnung ſo lebhaft zu erneuren,
„ſie nur mit einer maͤßigen Geſchwindigkeit auf
„einmal zu uͤberdenken, um zu einem etwanigen
„Begriffe des Ganzen zu gelangen.„ Arbeitete der
Dichter auf dieſen Begriff des Ganzen, da er uns
ſeine Theile zerlegte, um ihn nachher in allen dieſen
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