[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. nicht aber im Ganzen, anschauend, ein: so werdeich alsdann alle Regeln, die Hr. Lessing dem Dichter giebt, auch dem Versasser eines botanischen Lehr- buchs geben können. Jch werde zu ihm sehr ernst- haft sagen a): "Wie gelangen wir zu der deutli- "chen Vorstellung eines Dinges im Raume, eines "Krauts? Erst betrachten wir die Theile dessel- "ben einzeln, hierauf die Verbindung dieser Thei- "le, und endlich das Ganze. Unsre Sinne ver- "richten diese verschiedenen Operationen mit einer so "erstaunlichen Schnelligkeit, daß sie uns nur eine "einige zu seyn bedünken, und diese Schnelligkeit "ist unumgänglich nothwendig -- Gesetzt nun also "auch, der schriftliche Kräuterlehrer führe uns in "der schönsten Ordnung von einem Theile des Ge- "genstandes zu dem andern; gesetzt, er wisse uns "die Verbindung dieser Theile auch noch so klar zu "machen: wie viel Zeit gebraucht er dazu? Was "das Auge mit Einmal übersiehet, zählt er uns "merklich langsam nach und nach zu, und oft ge- "schieht es, daß wir bei dem letzten Zuge den ersten "schon vergessen haben. Jedennoch sollen wir uns "aus diesen Zügen ein Ganzes bilden: dem Auge "bleiben die betrachteten Theile beständig gegenwär- "tig: es kann sie abermals und abermals überlau- "fen; für das Ohr hingegen sind die vernommenen "Theile verlohren, wenn sie nicht in dem Gedächt- "nisse a) p. 166. 167.
Erſtes Waͤldchen. nicht aber im Ganzen, anſchauend, ein: ſo werdeich alsdann alle Regeln, die Hr. Leſſing dem Dichter giebt, auch dem Verſaſſer eines botaniſchen Lehr- buchs geben koͤnnen. Jch werde zu ihm ſehr ernſt- haft ſagen a): „Wie gelangen wir zu der deutli- „chen Vorſtellung eines Dinges im Raume, eines „Krauts? Erſt betrachten wir die Theile deſſel- „ben einzeln, hierauf die Verbindung dieſer Thei- „le, und endlich das Ganze. Unſre Sinne ver- „richten dieſe verſchiedenen Operationen mit einer ſo „erſtaunlichen Schnelligkeit, daß ſie uns nur eine „einige zu ſeyn beduͤnken, und dieſe Schnelligkeit „iſt unumgaͤnglich nothwendig — Geſetzt nun alſo „auch, der ſchriftliche Kraͤuterlehrer fuͤhre uns in „der ſchoͤnſten Ordnung von einem Theile des Ge- „genſtandes zu dem andern; geſetzt, er wiſſe uns „die Verbindung dieſer Theile auch noch ſo klar zu „machen: wie viel Zeit gebraucht er dazu? Was „das Auge mit Einmal uͤberſiehet, zaͤhlt er uns „merklich langſam nach und nach zu, und oft ge- „ſchieht es, daß wir bei dem letzten Zuge den erſten „ſchon vergeſſen haben. Jedennoch ſollen wir uns „aus dieſen Zuͤgen ein Ganzes bilden: dem Auge „bleiben die betrachteten Theile beſtaͤndig gegenwaͤr- „tig: es kann ſie abermals und abermals uͤberlau- „fen; fuͤr das Ohr hingegen ſind die vernommenen „Theile verlohren, wenn ſie nicht in dem Gedaͤcht- „niſſe a) p. 166. 167.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0213" n="207"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Erſtes Waͤldchen.</hi></fw><lb/> nicht aber im Ganzen, anſchauend, ein: ſo werde<lb/> ich alsdann alle Regeln, die Hr. Leſſing dem Dichter<lb/> giebt, auch dem Verſaſſer eines botaniſchen Lehr-<lb/> buchs geben koͤnnen. Jch werde zu ihm ſehr ernſt-<lb/> haft ſagen <note place="foot" n="a)"><hi rendition="#aq">p.</hi> 166. 167.</note>: „Wie gelangen wir zu der deutli-<lb/> „chen Vorſtellung eines Dinges im Raume, eines<lb/> „Krauts? Erſt betrachten wir die Theile deſſel-<lb/> „ben einzeln, hierauf die Verbindung dieſer Thei-<lb/> „le, und endlich das Ganze. Unſre Sinne ver-<lb/> „richten dieſe verſchiedenen Operationen mit einer ſo<lb/> „erſtaunlichen Schnelligkeit, daß ſie uns nur eine<lb/> „einige zu ſeyn beduͤnken, und dieſe Schnelligkeit<lb/> „iſt unumgaͤnglich nothwendig — Geſetzt nun alſo<lb/> „auch, der ſchriftliche Kraͤuterlehrer fuͤhre uns in<lb/> „der ſchoͤnſten Ordnung von einem Theile des Ge-<lb/> „genſtandes zu dem andern; geſetzt, er wiſſe uns<lb/> „die Verbindung dieſer Theile auch noch ſo klar zu<lb/> „machen: wie viel Zeit gebraucht er dazu? Was<lb/> „das Auge mit Einmal uͤberſiehet, zaͤhlt er uns<lb/> „merklich langſam nach und nach zu, und oft ge-<lb/> „ſchieht es, daß wir bei dem letzten Zuge den erſten<lb/> „ſchon vergeſſen haben. Jedennoch ſollen wir uns<lb/> „aus dieſen Zuͤgen ein Ganzes bilden: dem Auge<lb/> „bleiben die betrachteten Theile beſtaͤndig gegenwaͤr-<lb/> „tig: es kann ſie abermals und abermals uͤberlau-<lb/> „fen; fuͤr das Ohr hingegen ſind die vernommenen<lb/> „Theile verlohren, wenn ſie nicht in dem Gedaͤcht-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">„niſſe</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [207/0213]
Erſtes Waͤldchen.
nicht aber im Ganzen, anſchauend, ein: ſo werde
ich alsdann alle Regeln, die Hr. Leſſing dem Dichter
giebt, auch dem Verſaſſer eines botaniſchen Lehr-
buchs geben koͤnnen. Jch werde zu ihm ſehr ernſt-
haft ſagen a): „Wie gelangen wir zu der deutli-
„chen Vorſtellung eines Dinges im Raume, eines
„Krauts? Erſt betrachten wir die Theile deſſel-
„ben einzeln, hierauf die Verbindung dieſer Thei-
„le, und endlich das Ganze. Unſre Sinne ver-
„richten dieſe verſchiedenen Operationen mit einer ſo
„erſtaunlichen Schnelligkeit, daß ſie uns nur eine
„einige zu ſeyn beduͤnken, und dieſe Schnelligkeit
„iſt unumgaͤnglich nothwendig — Geſetzt nun alſo
„auch, der ſchriftliche Kraͤuterlehrer fuͤhre uns in
„der ſchoͤnſten Ordnung von einem Theile des Ge-
„genſtandes zu dem andern; geſetzt, er wiſſe uns
„die Verbindung dieſer Theile auch noch ſo klar zu
„machen: wie viel Zeit gebraucht er dazu? Was
„das Auge mit Einmal uͤberſiehet, zaͤhlt er uns
„merklich langſam nach und nach zu, und oft ge-
„ſchieht es, daß wir bei dem letzten Zuge den erſten
„ſchon vergeſſen haben. Jedennoch ſollen wir uns
„aus dieſen Zuͤgen ein Ganzes bilden: dem Auge
„bleiben die betrachteten Theile beſtaͤndig gegenwaͤr-
„tig: es kann ſie abermals und abermals uͤberlau-
„fen; fuͤr das Ohr hingegen ſind die vernommenen
„Theile verlohren, wenn ſie nicht in dem Gedaͤcht-
„niſſe
a) p. 166. 167.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |