Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
diese Bemerkungen einen alten Gedanken wieder in
die Seele gebracht, den ich bei Homer immer em-
pfunden, und zu dem diese einige Züge mit ent-
halten.

Homer sang, ehe schriftstellerische Prose da
war: er weiß also von keinen geschlossenen Perioden.
Nicht, als ob in ihm kein einiges Punkt wäre; die hat
er, mein Leser: und hat er nicht gnug, so klecke ihm
noch mehrere zu. Jch rede von keinen Unterschei-
dungszeichen, in welche unsre Sprachlehrer das We-
sentliche des Perioden setzen, sondern von der Zusam-
menordnung vieler einzelnen Züge, zu einem ganzen
Gemälde, das daher anfängt, wo uns die Sache
in die Augen fiel, Zug vor Zug uns weiter führt,
aber diese Züge verschränket, so umkehret, daß
der Sinn des Ganzen aufgehalten, daß er nicht
eher vollendet ist, bis wir zu Ende sind. Und dies
Kunststück des prosaischen Perioden, behaupte ich,
hat Homer nicht. Bei ihm fällt gleichsam Zug
nach Zug aus einander; er schreitet mit jedem Bei-
worte weiter: von keiner Verschränkung, von einer
künstlichen Suspension des Sinnes weiß er nichts.
"Der Grieche verbindet das Subjekt gleich mit dem
"Prädikate, und läßt die andern nachfolgen; er
"sagt "runde Räder, eherne, achtspeichichte" a)
"So wissen wir mit eins, wovon er redet, und
"werden der natürlichen Ordnung des Denkens ge-

"mäß,
a) Laok. 181.

Kritiſche Waͤlder.
dieſe Bemerkungen einen alten Gedanken wieder in
die Seele gebracht, den ich bei Homer immer em-
pfunden, und zu dem dieſe einige Zuͤge mit ent-
halten.

Homer ſang, ehe ſchriftſtelleriſche Proſe da
war: er weiß alſo von keinen geſchloſſenen Perioden.
Nicht, als ob in ihm kein einiges Punkt waͤre; die hat
er, mein Leſer: und hat er nicht gnug, ſo klecke ihm
noch mehrere zu. Jch rede von keinen Unterſchei-
dungszeichen, in welche unſre Sprachlehrer das We-
ſentliche des Perioden ſetzen, ſondern von der Zuſam-
menordnung vieler einzelnen Zuͤge, zu einem ganzen
Gemaͤlde, das daher anfaͤngt, wo uns die Sache
in die Augen fiel, Zug vor Zug uns weiter fuͤhrt,
aber dieſe Zuͤge verſchraͤnket, ſo umkehret, daß
der Sinn des Ganzen aufgehalten, daß er nicht
eher vollendet iſt, bis wir zu Ende ſind. Und dies
Kunſtſtuͤck des proſaiſchen Perioden, behaupte ich,
hat Homer nicht. Bei ihm faͤllt gleichſam Zug
nach Zug aus einander; er ſchreitet mit jedem Bei-
worte weiter: von keiner Verſchraͤnkung, von einer
kuͤnſtlichen Suſpenſion des Sinnes weiß er nichts.
„Der Grieche verbindet das Subjekt gleich mit dem
„Praͤdikate, und laͤßt die andern nachfolgen; er
„ſagt „runde Raͤder, eherne, achtſpeichichte„ a)
„So wiſſen wir mit eins, wovon er redet, und
„werden der natuͤrlichen Ordnung des Denkens ge-

„maͤß,
a) Laok. 181.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0194" n="188"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
die&#x017F;e Bemerkungen einen alten Gedanken wieder in<lb/>
die Seele gebracht, den ich bei Homer immer em-<lb/>
pfunden, und zu dem die&#x017F;e einige Zu&#x0364;ge mit ent-<lb/>
halten.</p><lb/>
          <p>Homer &#x017F;ang, ehe &#x017F;chrift&#x017F;telleri&#x017F;che Pro&#x017F;e da<lb/>
war: er weiß al&#x017F;o von keinen ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Perioden.<lb/>
Nicht, als ob in ihm kein einiges Punkt wa&#x0364;re; die hat<lb/>
er, mein Le&#x017F;er: und hat er nicht gnug, &#x017F;o klecke ihm<lb/>
noch mehrere zu. Jch rede von keinen Unter&#x017F;chei-<lb/>
dungszeichen, in welche un&#x017F;re Sprachlehrer das We-<lb/>
&#x017F;entliche des Perioden &#x017F;etzen, &#x017F;ondern von der Zu&#x017F;am-<lb/>
menordnung vieler einzelnen Zu&#x0364;ge, zu einem ganzen<lb/>
Gema&#x0364;lde, das <hi rendition="#fr">daher</hi> anfa&#x0364;ngt, wo uns die Sache<lb/>
in die Augen fiel, Zug vor Zug uns weiter fu&#x0364;hrt,<lb/>
aber die&#x017F;e Zu&#x0364;ge <hi rendition="#fr">ver&#x017F;chra&#x0364;nket,</hi> &#x017F;o umkehret, daß<lb/>
der Sinn des Ganzen aufgehalten, daß er nicht<lb/>
eher vollendet i&#x017F;t, bis wir zu Ende &#x017F;ind. Und dies<lb/>
Kun&#x017F;t&#x017F;tu&#x0364;ck des pro&#x017F;ai&#x017F;chen Perioden, behaupte ich,<lb/>
hat Homer nicht. Bei ihm fa&#x0364;llt gleich&#x017F;am Zug<lb/>
nach Zug aus einander; er &#x017F;chreitet mit jedem Bei-<lb/>
worte weiter: von keiner Ver&#x017F;chra&#x0364;nkung, von einer<lb/>
ku&#x0364;n&#x017F;tlichen Su&#x017F;pen&#x017F;ion des Sinnes weiß er nichts.<lb/>
&#x201E;Der Grieche verbindet das Subjekt gleich mit dem<lb/>
&#x201E;Pra&#x0364;dikate, und la&#x0364;ßt die andern nachfolgen; er<lb/>
&#x201E;&#x017F;agt &#x201E;runde Ra&#x0364;der, eherne, acht&#x017F;peichichte&#x201E; <note place="foot" n="a)">Laok. 181.</note><lb/>
&#x201E;So wi&#x017F;&#x017F;en wir mit eins, wovon er redet, und<lb/>
&#x201E;werden der natu&#x0364;rlichen Ordnung des Denkens ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;ma&#x0364;ß,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[188/0194] Kritiſche Waͤlder. dieſe Bemerkungen einen alten Gedanken wieder in die Seele gebracht, den ich bei Homer immer em- pfunden, und zu dem dieſe einige Zuͤge mit ent- halten. Homer ſang, ehe ſchriftſtelleriſche Proſe da war: er weiß alſo von keinen geſchloſſenen Perioden. Nicht, als ob in ihm kein einiges Punkt waͤre; die hat er, mein Leſer: und hat er nicht gnug, ſo klecke ihm noch mehrere zu. Jch rede von keinen Unterſchei- dungszeichen, in welche unſre Sprachlehrer das We- ſentliche des Perioden ſetzen, ſondern von der Zuſam- menordnung vieler einzelnen Zuͤge, zu einem ganzen Gemaͤlde, das daher anfaͤngt, wo uns die Sache in die Augen fiel, Zug vor Zug uns weiter fuͤhrt, aber dieſe Zuͤge verſchraͤnket, ſo umkehret, daß der Sinn des Ganzen aufgehalten, daß er nicht eher vollendet iſt, bis wir zu Ende ſind. Und dies Kunſtſtuͤck des proſaiſchen Perioden, behaupte ich, hat Homer nicht. Bei ihm faͤllt gleichſam Zug nach Zug aus einander; er ſchreitet mit jedem Bei- worte weiter: von keiner Verſchraͤnkung, von einer kuͤnſtlichen Suſpenſion des Sinnes weiß er nichts. „Der Grieche verbindet das Subjekt gleich mit dem „Praͤdikate, und laͤßt die andern nachfolgen; er „ſagt „runde Raͤder, eherne, achtſpeichichte„ a) „So wiſſen wir mit eins, wovon er redet, und „werden der natuͤrlichen Ordnung des Denkens ge- „maͤß, a) Laok. 181.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/194
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/194>, abgerufen am 09.05.2024.