[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. wunden, wie weit mehr zu sehen ist. So wirdVenus von Diomedes verwundet, ob er sie gleich als Göttinn erkennet a): und um sie zu trösten, er- zält ihre Mutter Dione b), was schon von jeher die Himmlischen von den Sterblichen haben erleiden müssen, wie Mars von zween seiner tapferen Fein- de gebunden, ins Gefängniß geworfen, dreizehen Monate lang gefangen gehalten, und mit genauer Noth vom Merkur heimlich gerettet sey: wie Juno verwundet, Pluto verwundet -- -- was darfs, die mythologischen Geschichte her zu erzälen, die alle wenigstens so viel zeigen, daß nach der homerischen Göttertheorie der Satz zu hoch klinge: "Unsichtbar "seyn, ist der Zustand der Götter: einer Erhöhung "des Gesichts bedarfs, um nur von Menschen ge- "sehen zu werden, nicht aber einer Abbrechung der "Lichtstralen, um nicht gesehen zu seyn." Brauchts dieses nicht einmal, wie unmöglich, daß ein Gott wider Willen erkannt, gebunden, verwundet werde? Wenn er den menschlichen Augen seiner Natur nach nicht bloß entgeht, sondern dieselben durch ein Wun- der erst erhöhet werden sollen, wie sinnlos alsdenn, seiner Natur nach, verwundbar, für den Helden überwindlich zu seyn? Man wird mir antworten: um einen Gott, um eine Göttinn zu erkennen, muß- ten dem Diomedes erst von einer andern Göttinn die Augen eröffnet werden; allein hier rede ich nur von dem a) Ibid. v. 310. 331. b) Ibid. v. 381. L 2
Erſtes Waͤldchen. wunden, wie weit mehr zu ſehen iſt. So wirdVenus von Diomedes verwundet, ob er ſie gleich als Goͤttinn erkennet a): und um ſie zu troͤſten, er- zaͤlt ihre Mutter Dione b), was ſchon von jeher die Himmliſchen von den Sterblichen haben erleiden muͤſſen, wie Mars von zween ſeiner tapferen Fein- de gebunden, ins Gefaͤngniß geworfen, dreizehen Monate lang gefangen gehalten, und mit genauer Noth vom Merkur heimlich gerettet ſey: wie Juno verwundet, Pluto verwundet — — was darfs, die mythologiſchen Geſchichte her zu erzaͤlen, die alle wenigſtens ſo viel zeigen, daß nach der homeriſchen Goͤttertheorie der Satz zu hoch klinge: „Unſichtbar „ſeyn, iſt der Zuſtand der Goͤtter: einer Erhoͤhung „des Geſichts bedarfs, um nur von Menſchen ge- „ſehen zu werden, nicht aber einer Abbrechung der „Lichtſtralen, um nicht geſehen zu ſeyn.„ Brauchts dieſes nicht einmal, wie unmoͤglich, daß ein Gott wider Willen erkannt, gebunden, verwundet werde? Wenn er den menſchlichen Augen ſeiner Natur nach nicht bloß entgeht, ſondern dieſelben durch ein Wun- der erſt erhoͤhet werden ſollen, wie ſinnlos alsdenn, ſeiner Natur nach, verwundbar, fuͤr den Helden uͤberwindlich zu ſeyn? Man wird mir antworten: um einen Gott, um eine Goͤttinn zu erkennen, muß- ten dem Diomedes erſt von einer andern Goͤttinn die Augen eroͤffnet werden; allein hier rede ich nur von dem a) Ibid. v. 310. 331. b) Ibid. v. 381. L 2
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Erſtes Waͤldchen.
wunden, wie weit mehr zu ſehen iſt. So wird
Venus von Diomedes verwundet, ob er ſie gleich
als Goͤttinn erkennet a): und um ſie zu troͤſten, er-
zaͤlt ihre Mutter Dione b), was ſchon von jeher die
Himmliſchen von den Sterblichen haben erleiden
muͤſſen, wie Mars von zween ſeiner tapferen Fein-
de gebunden, ins Gefaͤngniß geworfen, dreizehen
Monate lang gefangen gehalten, und mit genauer
Noth vom Merkur heimlich gerettet ſey: wie Juno
verwundet, Pluto verwundet — — was darfs,
die mythologiſchen Geſchichte her zu erzaͤlen, die alle
wenigſtens ſo viel zeigen, daß nach der homeriſchen
Goͤttertheorie der Satz zu hoch klinge: „Unſichtbar
„ſeyn, iſt der Zuſtand der Goͤtter: einer Erhoͤhung
„des Geſichts bedarfs, um nur von Menſchen ge-
„ſehen zu werden, nicht aber einer Abbrechung der
„Lichtſtralen, um nicht geſehen zu ſeyn.„ Brauchts
dieſes nicht einmal, wie unmoͤglich, daß ein Gott
wider Willen erkannt, gebunden, verwundet werde?
Wenn er den menſchlichen Augen ſeiner Natur nach
nicht bloß entgeht, ſondern dieſelben durch ein Wun-
der erſt erhoͤhet werden ſollen, wie ſinnlos alsdenn,
ſeiner Natur nach, verwundbar, fuͤr den Helden
uͤberwindlich zu ſeyn? Man wird mir antworten:
um einen Gott, um eine Goͤttinn zu erkennen, muß-
ten dem Diomedes erſt von einer andern Goͤttinn die
Augen eroͤffnet werden; allein hier rede ich nur von
dem
a) Ibid. v. 310. 331.
b) Ibid. v. 381.
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