Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite
Kritische Wälder.

Wie der Pallas: so gieng es auch der baden-
den keuschen Diana. Kalydon sah sie, ebenfalls
wider seinen und der Göttinn Willen, und ward zu
Steine. So gieng es selbst dem Jupiter, da er in
seinem liebsten Vergnügen einmal seine Wolke ver-
gessen hatte. Er ward, da er bei der Rhea
schlief, von Haliakmon, wider Willen seiner, und
seiner geliebten Beischläferinn, und seines Ueberra-
schers, in seiner Schäferstunde gestört -- wie
das? wenn " unsichtbar seyn, der natürliche Zu-
"stand der Götter wäre."

Jch will solche gestörte Schäferstunden der
Götter und Göttinnen nicht aufzälen. Meine Mu-
se ist diesmal nicht so, wie die Schwester des
Amors, die

-- -- wie die Mädchen alle thun,
Verliebte gern beschleichet. --

Jch führe, statt aller, das Epigramm aus der An-
thologie a) an, in seinem einfältigen Scherze, in sei-
ner naifen Schalkheit: "Werde ja niemand in
"meinen Wassern eine der Najaden, oder die Ve-
"nus mit ihren Gratien nackt gewahr: selbst wenn
"es ohne Vorsatz seyn sollte; denn immer ist nach Ho-
"mers
Ausspruche der offenbare Anblick der Götter ge-
"fährlich, und wer darf Homer widersprechen?" Um
die verborgne Schalkheit einzusehen, die in diesem Epi-
gramm liegt, merke man sich den Doppelsinn, der in

dem
a) Anthol. L. IV. c. 19. epig. 33.
Kritiſche Waͤlder.

Wie der Pallas: ſo gieng es auch der baden-
den keuſchen Diana. Kalydon ſah ſie, ebenfalls
wider ſeinen und der Goͤttinn Willen, und ward zu
Steine. So gieng es ſelbſt dem Jupiter, da er in
ſeinem liebſten Vergnuͤgen einmal ſeine Wolke ver-
geſſen hatte. Er ward, da er bei der Rhea
ſchlief, von Haliakmon, wider Willen ſeiner, und
ſeiner geliebten Beiſchlaͤferinn, und ſeines Ueberra-
ſchers, in ſeiner Schaͤferſtunde geſtoͤrt — wie
das? wenn „ unſichtbar ſeyn, der natuͤrliche Zu-
„ſtand der Goͤtter waͤre.„

Jch will ſolche geſtoͤrte Schaͤferſtunden der
Goͤtter und Goͤttinnen nicht aufzaͤlen. Meine Mu-
ſe iſt diesmal nicht ſo, wie die Schweſter des
Amors, die

— — wie die Maͤdchen alle thun,
Verliebte gern beſchleichet. —

Jch fuͤhre, ſtatt aller, das Epigramm aus der An-
thologie a) an, in ſeinem einfaͤltigen Scherze, in ſei-
ner naifen Schalkheit: „Werde ja niemand in
„meinen Waſſern eine der Najaden, oder die Ve-
„nus mit ihren Gratien nackt gewahr: ſelbſt wenn
„es ohne Vorſatz ſeyn ſollte; denn immer iſt nach Ho-
„mers
Ausſpruche der offenbare Anblick der Goͤtter ge-
„faͤhrlich, und wer darf Homer widerſprechen?„ Um
die verborgne Schalkheit einzuſehen, die in dieſem Epi-
gramm liegt, merke man ſich den Doppelſinn, der in

dem
a) Anthol. L. IV. c. 19. epig. 33.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0166" n="160"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi> </fw><lb/>
          <p>Wie der Pallas: &#x017F;o gieng es auch der baden-<lb/>
den keu&#x017F;chen Diana. Kalydon &#x017F;ah &#x017F;ie, ebenfalls<lb/>
wider &#x017F;einen und der Go&#x0364;ttinn Willen, und ward zu<lb/>
Steine. So gieng es &#x017F;elb&#x017F;t dem Jupiter, da er in<lb/>
&#x017F;einem lieb&#x017F;ten Vergnu&#x0364;gen einmal &#x017F;eine Wolke ver-<lb/>
ge&#x017F;&#x017F;en hatte. Er ward, da er bei der <hi rendition="#fr">Rhea</hi><lb/>
&#x017F;chlief, von Haliakmon, wider Willen &#x017F;einer, und<lb/>
&#x017F;einer geliebten Bei&#x017F;chla&#x0364;ferinn, und &#x017F;eines Ueberra-<lb/>
&#x017F;chers, in &#x017F;einer Scha&#x0364;fer&#x017F;tunde ge&#x017F;to&#x0364;rt &#x2014; wie<lb/>
das? wenn &#x201E; un&#x017F;ichtbar &#x017F;eyn, der natu&#x0364;rliche Zu-<lb/>
&#x201E;&#x017F;tand der Go&#x0364;tter wa&#x0364;re.&#x201E;</p><lb/>
          <p>Jch will &#x017F;olche ge&#x017F;to&#x0364;rte Scha&#x0364;fer&#x017F;tunden der<lb/>
Go&#x0364;tter und Go&#x0364;ttinnen nicht aufza&#x0364;len. Meine Mu-<lb/>
&#x017F;e i&#x017F;t diesmal nicht &#x017F;o, wie die Schwe&#x017F;ter des<lb/>
Amors, die</p><lb/>
          <cit>
            <quote>
              <lg type="poem">
                <l>&#x2014; &#x2014; wie die Ma&#x0364;dchen alle thun,</l><lb/>
                <l>Verliebte gern be&#x017F;chleichet. &#x2014;</l>
              </lg>
            </quote>
            <bibl/>
          </cit><lb/>
          <p>Jch fu&#x0364;hre, &#x017F;tatt aller, das Epigramm aus der An-<lb/>
thologie <note place="foot" n="a)"><hi rendition="#aq">Anthol. L. IV. c. 19. epig.</hi> 33.</note> an, in &#x017F;einem einfa&#x0364;ltigen Scherze, in &#x017F;ei-<lb/>
ner naifen Schalkheit: &#x201E;Werde ja niemand in<lb/>
&#x201E;meinen Wa&#x017F;&#x017F;ern eine der Najaden, oder die Ve-<lb/>
&#x201E;nus mit ihren Gratien nackt gewahr: &#x017F;elb&#x017F;t wenn<lb/>
&#x201E;es ohne Vor&#x017F;atz &#x017F;eyn &#x017F;ollte; denn immer i&#x017F;t nach <hi rendition="#fr">Ho-<lb/>
&#x201E;mers</hi> Aus&#x017F;pruche der offenbare Anblick der Go&#x0364;tter ge-<lb/>
&#x201E;fa&#x0364;hrlich, und wer darf Homer wider&#x017F;prechen?&#x201E; Um<lb/>
die verborgne Schalkheit einzu&#x017F;ehen, die in die&#x017F;em Epi-<lb/>
gramm liegt, merke man &#x017F;ich den Doppel&#x017F;inn, der in<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">dem</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[160/0166] Kritiſche Waͤlder. Wie der Pallas: ſo gieng es auch der baden- den keuſchen Diana. Kalydon ſah ſie, ebenfalls wider ſeinen und der Goͤttinn Willen, und ward zu Steine. So gieng es ſelbſt dem Jupiter, da er in ſeinem liebſten Vergnuͤgen einmal ſeine Wolke ver- geſſen hatte. Er ward, da er bei der Rhea ſchlief, von Haliakmon, wider Willen ſeiner, und ſeiner geliebten Beiſchlaͤferinn, und ſeines Ueberra- ſchers, in ſeiner Schaͤferſtunde geſtoͤrt — wie das? wenn „ unſichtbar ſeyn, der natuͤrliche Zu- „ſtand der Goͤtter waͤre.„ Jch will ſolche geſtoͤrte Schaͤferſtunden der Goͤtter und Goͤttinnen nicht aufzaͤlen. Meine Mu- ſe iſt diesmal nicht ſo, wie die Schweſter des Amors, die — — wie die Maͤdchen alle thun, Verliebte gern beſchleichet. — Jch fuͤhre, ſtatt aller, das Epigramm aus der An- thologie a) an, in ſeinem einfaͤltigen Scherze, in ſei- ner naifen Schalkheit: „Werde ja niemand in „meinen Waſſern eine der Najaden, oder die Ve- „nus mit ihren Gratien nackt gewahr: ſelbſt wenn „es ohne Vorſatz ſeyn ſollte; denn immer iſt nach Ho- „mers Ausſpruche der offenbare Anblick der Goͤtter ge- „faͤhrlich, und wer darf Homer widerſprechen?„ Um die verborgne Schalkheit einzuſehen, die in dieſem Epi- gramm liegt, merke man ſich den Doppelſinn, der in dem a) Anthol. L. IV. c. 19. epig. 33.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/166
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/166>, abgerufen am 23.11.2024.