Folgendes wird zeigen, daß Hr. L. in seiner Wolken- theorie der griechischen Götter -- -- ein Ketzer sey.
"Unsichtbar seyn, ist der natürliche Zustand der "Götter;" wie kommt es denn, wenn ich fragen darf, daß Götter wider Willen können gesehen werden? daß man sie unvermuthet überraschen darf, wenn sie nicht gesehen seyn wollen? Es war ein Glaubensartikel bei den Griechen, daß nichts ge- fährlicher sey, als ein solcher überraschender An- blick b), und mancher unglücklicher Unschuldige hat- te darüber ein Opfer werden müssen. Pallas, die keuscheste der Göttinnen, die vor Keuschheit sich selbst kaum nackt zu sehen wagte, die wohl am mindesten unter allen Göttinnen jene falsche Jungfernscheu besaß, sich zu verstecken, und doch wollen gesehen zu werden, diese jungfräuliche Pallas wählet sich den sichersten, den geheimsten Ort, um ihre Gorgone abzulegen: sie badet sich, und ein eben so ehrlicher Tiresias überrascht sie, siehet sie wider seinen Wil- len, erblindet. Jndessen um den Unschuldigen ei- niger Maaßen schadlos zu halten, giebt Pallas -- ihm nicht das Gesicht wieder; denn dies ließ ihre Jungfräulichkeit nicht zu; sondern die Gabe der Weissagung. Wie hätte Pallas wider ihren und Tiresias Willen überraschet werden können, wenn "unsichtbar seyn, der natürliche Zustand der "Götter wäre?"
Wie
b)Callimach. hym. in Pallad. Dianam &c.
Erſtes Waͤldchen.
Folgendes wird zeigen, daß Hr. L. in ſeiner Wolken- theorie der griechiſchen Goͤtter — — ein Ketzer ſey.
„Unſichtbar ſeyn, iſt der natuͤrliche Zuſtand der „Goͤtter;„ wie kommt es denn, wenn ich fragen darf, daß Goͤtter wider Willen koͤnnen geſehen werden? daß man ſie unvermuthet uͤberraſchen darf, wenn ſie nicht geſehen ſeyn wollen? Es war ein Glaubensartikel bei den Griechen, daß nichts ge- faͤhrlicher ſey, als ein ſolcher uͤberraſchender An- blick b), und mancher ungluͤcklicher Unſchuldige hat- te daruͤber ein Opfer werden muͤſſen. Pallas, die keuſcheſte der Goͤttinnen, die vor Keuſchheit ſich ſelbſt kaum nackt zu ſehen wagte, die wohl am mindeſten unter allen Goͤttinnen jene falſche Jungfernſcheu beſaß, ſich zu verſtecken, und doch wollen geſehen zu werden, dieſe jungfraͤuliche Pallas waͤhlet ſich den ſicherſten, den geheimſten Ort, um ihre Gorgone abzulegen: ſie badet ſich, und ein eben ſo ehrlicher Tireſias uͤberraſcht ſie, ſiehet ſie wider ſeinen Wil- len, erblindet. Jndeſſen um den Unſchuldigen ei- niger Maaßen ſchadlos zu halten, giebt Pallas — ihm nicht das Geſicht wieder; denn dies ließ ihre Jungfraͤulichkeit nicht zu; ſondern die Gabe der Weiſſagung. Wie haͤtte Pallas wider ihren und Tireſias Willen uͤberraſchet werden koͤnnen, wenn „unſichtbar ſeyn, der natuͤrliche Zuſtand der „Goͤtter waͤre?„
Wie
b)Callimach. hym. in Pallad. Dianam &c.
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Erſtes Waͤldchen.
Folgendes wird zeigen, daß Hr. L. in ſeiner Wolken-
theorie der griechiſchen Goͤtter — — ein Ketzer ſey.
„Unſichtbar ſeyn, iſt der natuͤrliche Zuſtand der
„Goͤtter;„ wie kommt es denn, wenn ich fragen
darf, daß Goͤtter wider Willen koͤnnen geſehen
werden? daß man ſie unvermuthet uͤberraſchen
darf, wenn ſie nicht geſehen ſeyn wollen? Es war
ein Glaubensartikel bei den Griechen, daß nichts ge-
faͤhrlicher ſey, als ein ſolcher uͤberraſchender An-
blick b), und mancher ungluͤcklicher Unſchuldige hat-
te daruͤber ein Opfer werden muͤſſen. Pallas, die
keuſcheſte der Goͤttinnen, die vor Keuſchheit ſich ſelbſt
kaum nackt zu ſehen wagte, die wohl am mindeſten
unter allen Goͤttinnen jene falſche Jungfernſcheu
beſaß, ſich zu verſtecken, und doch wollen geſehen
zu werden, dieſe jungfraͤuliche Pallas waͤhlet ſich den
ſicherſten, den geheimſten Ort, um ihre Gorgone
abzulegen: ſie badet ſich, und ein eben ſo ehrlicher
Tireſias uͤberraſcht ſie, ſiehet ſie wider ſeinen Wil-
len, erblindet. Jndeſſen um den Unſchuldigen ei-
niger Maaßen ſchadlos zu halten, giebt Pallas —
ihm nicht das Geſicht wieder; denn dies ließ ihre
Jungfraͤulichkeit nicht zu; ſondern die Gabe der
Weiſſagung. Wie haͤtte Pallas wider ihren und
Tireſias Willen uͤberraſchet werden koͤnnen,
wenn „unſichtbar ſeyn, der natuͤrliche Zuſtand der
„Goͤtter waͤre?„
Wie
b) Callimach. hym. in Pallad. Dianam &c.
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/165>, abgerufen am 16.07.2024.
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