Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
gehört. So lange er mich in dieser poetischen Welt,
in welcher Götter und Helden kämpfen, wie bezau-
bert, vest hält: so lange mich seine Minerva durch
diese wunderbaren und schrecklichen Auftritte führt,
und mir die Augen erhöht hat, nicht blos streiten-
de Menschen, sondern auch kämpfende und verwun-
dete Götter zu erblicken; so lange sehe ich auch die-
sen Nebel eben so gläubig, als den Gott selbst, der
die Wolke um seinen Liebling webt. Beide, der
Gott und seine Wolke, haben ein gleich poetisches
Wesen; wenn ich das eine prosaisire, muß auch hin-
ter den andern ein grammatisches das ist kommen,
und dann verliere ich die ganze mythische Schö-
pfung
in Homer. Jch bin nicht mehr in dem epi-
schen Treffen eines Dichters sondern in einer histo-
rischen Feldschlacht: ich lese nach der Taktik: ich se-
he nach dem gewöhnlichen Augenmaaße.

Hr. L. scheint darnach gesehen zu haben; wenig-
stens überredet er uns, darnach sehen zu können a).
"Keinen wirklichen Nebel sahe Achilles nicht, und
"das ganze Kunststück, womit die Götter unsicht-
"bar machten, bestand auch nicht in dem Nebel --
"sondern in der schnellen Entrückung. Nur um
"zugleich mit anzuzeigen, daß die Entrückung so
"schnell geschehen, daß kein menschliches Auge dem
"entrückten Körper nachfolgen könne, hüllet ihn
"der Dichter vorher in Nebel ein; nicht weil man

"an-
a) p. 138. 139.

Kritiſche Waͤlder.
gehoͤrt. So lange er mich in dieſer poetiſchen Welt,
in welcher Goͤtter und Helden kaͤmpfen, wie bezau-
bert, veſt haͤlt: ſo lange mich ſeine Minerva durch
dieſe wunderbaren und ſchrecklichen Auftritte fuͤhrt,
und mir die Augen erhoͤht hat, nicht blos ſtreiten-
de Menſchen, ſondern auch kaͤmpfende und verwun-
dete Goͤtter zu erblicken; ſo lange ſehe ich auch die-
ſen Nebel eben ſo glaͤubig, als den Gott ſelbſt, der
die Wolke um ſeinen Liebling webt. Beide, der
Gott und ſeine Wolke, haben ein gleich poetiſches
Weſen; wenn ich das eine proſaiſire, muß auch hin-
ter den andern ein grammatiſches das iſt kommen,
und dann verliere ich die ganze mythiſche Schoͤ-
pfung
in Homer. Jch bin nicht mehr in dem epi-
ſchen Treffen eines Dichters ſondern in einer hiſto-
riſchen Feldſchlacht: ich leſe nach der Taktik: ich ſe-
he nach dem gewoͤhnlichen Augenmaaße.

Hr. L. ſcheint darnach geſehen zu haben; wenig-
ſtens uͤberredet er uns, darnach ſehen zu koͤnnen a).
„Keinen wirklichen Nebel ſahe Achilles nicht, und
„das ganze Kunſtſtuͤck, womit die Goͤtter unſicht-
„bar machten, beſtand auch nicht in dem Nebel —
„ſondern in der ſchnellen Entruͤckung. Nur um
„zugleich mit anzuzeigen, daß die Entruͤckung ſo
„ſchnell geſchehen, daß kein menſchliches Auge dem
„entruͤckten Koͤrper nachfolgen koͤnne, huͤllet ihn
„der Dichter vorher in Nebel ein; nicht weil man

„an-
a) p. 138. 139.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0162" n="156"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
geho&#x0364;rt. So lange er mich in die&#x017F;er poeti&#x017F;chen Welt,<lb/>
in welcher Go&#x0364;tter und Helden ka&#x0364;mpfen, wie bezau-<lb/>
bert, ve&#x017F;t ha&#x0364;lt: &#x017F;o lange mich &#x017F;eine Minerva durch<lb/>
die&#x017F;e wunderbaren und &#x017F;chrecklichen Auftritte fu&#x0364;hrt,<lb/>
und mir die Augen erho&#x0364;ht hat, nicht blos &#x017F;treiten-<lb/>
de Men&#x017F;chen, &#x017F;ondern auch ka&#x0364;mpfende und verwun-<lb/>
dete Go&#x0364;tter zu erblicken; &#x017F;o lange &#x017F;ehe ich auch die-<lb/>
&#x017F;en Nebel eben &#x017F;o gla&#x0364;ubig, als den Gott &#x017F;elb&#x017F;t, der<lb/>
die Wolke um &#x017F;einen Liebling webt. Beide, der<lb/>
Gott und &#x017F;eine Wolke, haben ein gleich poeti&#x017F;ches<lb/>
We&#x017F;en; wenn ich das eine pro&#x017F;ai&#x017F;ire, muß auch hin-<lb/>
ter den andern ein grammati&#x017F;ches <hi rendition="#fr">das i&#x017F;t</hi> kommen,<lb/>
und dann verliere ich die ganze <hi rendition="#fr">mythi&#x017F;che Scho&#x0364;-<lb/>
pfung</hi> in Homer. Jch bin nicht mehr in dem epi-<lb/>
&#x017F;chen Treffen eines Dichters &#x017F;ondern in einer hi&#x017F;to-<lb/>
ri&#x017F;chen Feld&#x017F;chlacht: ich le&#x017F;e nach der Taktik: ich &#x017F;e-<lb/>
he nach dem gewo&#x0364;hnlichen Augenmaaße.</p><lb/>
          <p>Hr. L. &#x017F;cheint darnach ge&#x017F;ehen zu haben; wenig-<lb/>
&#x017F;tens u&#x0364;berredet er uns, darnach &#x017F;ehen zu ko&#x0364;nnen <note place="foot" n="a)">p. 138. 139.</note>.<lb/>
&#x201E;Keinen wirklichen Nebel &#x017F;ahe Achilles nicht, und<lb/>
&#x201E;das ganze Kun&#x017F;t&#x017F;tu&#x0364;ck, womit die Go&#x0364;tter un&#x017F;icht-<lb/>
&#x201E;bar machten, be&#x017F;tand auch nicht in dem Nebel &#x2014;<lb/>
&#x201E;&#x017F;ondern in der &#x017F;chnellen Entru&#x0364;ckung. Nur um<lb/>
&#x201E;zugleich mit anzuzeigen, daß die Entru&#x0364;ckung &#x017F;o<lb/>
&#x201E;&#x017F;chnell ge&#x017F;chehen, daß kein men&#x017F;chliches Auge dem<lb/>
&#x201E;entru&#x0364;ckten Ko&#x0364;rper nachfolgen ko&#x0364;nne, hu&#x0364;llet ihn<lb/>
&#x201E;der Dichter vorher in Nebel ein; nicht weil man<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;an-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[156/0162] Kritiſche Waͤlder. gehoͤrt. So lange er mich in dieſer poetiſchen Welt, in welcher Goͤtter und Helden kaͤmpfen, wie bezau- bert, veſt haͤlt: ſo lange mich ſeine Minerva durch dieſe wunderbaren und ſchrecklichen Auftritte fuͤhrt, und mir die Augen erhoͤht hat, nicht blos ſtreiten- de Menſchen, ſondern auch kaͤmpfende und verwun- dete Goͤtter zu erblicken; ſo lange ſehe ich auch die- ſen Nebel eben ſo glaͤubig, als den Gott ſelbſt, der die Wolke um ſeinen Liebling webt. Beide, der Gott und ſeine Wolke, haben ein gleich poetiſches Weſen; wenn ich das eine proſaiſire, muß auch hin- ter den andern ein grammatiſches das iſt kommen, und dann verliere ich die ganze mythiſche Schoͤ- pfung in Homer. Jch bin nicht mehr in dem epi- ſchen Treffen eines Dichters ſondern in einer hiſto- riſchen Feldſchlacht: ich leſe nach der Taktik: ich ſe- he nach dem gewoͤhnlichen Augenmaaße. Hr. L. ſcheint darnach geſehen zu haben; wenig- ſtens uͤberredet er uns, darnach ſehen zu koͤnnen a). „Keinen wirklichen Nebel ſahe Achilles nicht, und „das ganze Kunſtſtuͤck, womit die Goͤtter unſicht- „bar machten, beſtand auch nicht in dem Nebel — „ſondern in der ſchnellen Entruͤckung. Nur um „zugleich mit anzuzeigen, daß die Entruͤckung ſo „ſchnell geſchehen, daß kein menſchliches Auge dem „entruͤckten Koͤrper nachfolgen koͤnne, huͤllet ihn „der Dichter vorher in Nebel ein; nicht weil man „an- a) p. 138. 139.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/162
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/162>, abgerufen am 09.05.2024.