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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Erstes Wäldchen.
nen voraus hat: nämlich ein höchstes Jdeal der
Schönheit für das Auge, und für die Phantasie die
stille Ruhe des griechischen Ausdrucks: denn beide
sind die Mittel, uns in den Armen einer ewigen
Entzückung, und in dem Abgrunde eines langen se-
ligen Anblicks zu erhalten.

"Wie kommts, fragt ein Philosoph des Schö-
"nen a), daß es nur in der Malerei und Bildhau-
"erkunst eine Jdealschönheit, ein aliquid immen-
"sum infinitumque
giebt, daß sich die Künstler in
"der Einbildung zum Muster vorstellen, und in
"der Dichtkunst nicht?" Jch glaube nicht, daß er
sich diese Frage von Seiten der Kunst durch die Be-
merkung aufgelöset, "daß in den schönen Künsten
"das Jdealschöne am schwersten zu erreichen sey"
denn die Frage bleibt dieselbe: "warum muß denn
"ein so schweres Ziel erreichet seyn?" Aus keiner
Ursache glaube ich, als weil die Kunst nur Werke
liefert, die Einen Augenblick vorstellen, und zu einem
großen Anblicke gebildet sind: die also ihren Au-
genblick so annehmlich, so schön machen müssen,
daß nichts drüber, daß die Seele in Betrach-
tung desselben versunken, gleichsam ruhe, und das
Maas der vorübergehenden Zeit verliere. Die
schönen Künste und Wissenschaften dagegen, die
durch die Zeit und Abwechselung der Augenblicke
wirken, die Energie zum Wesen haben, müssen kei-

nen
a) Litt. B. Th. 4. p. 285.
H 2

Erſtes Waͤldchen.
nen voraus hat: naͤmlich ein hoͤchſtes Jdeal der
Schoͤnheit fuͤr das Auge, und fuͤr die Phantaſie die
ſtille Ruhe des griechiſchen Ausdrucks: denn beide
ſind die Mittel, uns in den Armen einer ewigen
Entzuͤckung, und in dem Abgrunde eines langen ſe-
ligen Anblicks zu erhalten.

„Wie kommts, fragt ein Philoſoph des Schoͤ-
„nen a), daß es nur in der Malerei und Bildhau-
„erkunſt eine Jdealſchoͤnheit, ein aliquid immen-
„ſum infinitumque
giebt, daß ſich die Kuͤnſtler in
„der Einbildung zum Muſter vorſtellen, und in
„der Dichtkunſt nicht?„ Jch glaube nicht, daß er
ſich dieſe Frage von Seiten der Kunſt durch die Be-
merkung aufgeloͤſet, „daß in den ſchoͤnen Kuͤnſten
„das Jdealſchoͤne am ſchwerſten zu erreichen ſey„
denn die Frage bleibt dieſelbe: „warum muß denn
„ein ſo ſchweres Ziel erreichet ſeyn?„ Aus keiner
Urſache glaube ich, als weil die Kunſt nur Werke
liefert, die Einen Augenblick vorſtellen, und zu einem
großen Anblicke gebildet ſind: die alſo ihren Au-
genblick ſo annehmlich, ſo ſchoͤn machen muͤſſen,
daß nichts druͤber, daß die Seele in Betrach-
tung deſſelben verſunken, gleichſam ruhe, und das
Maas der voruͤbergehenden Zeit verliere. Die
ſchoͤnen Kuͤnſte und Wiſſenſchaften dagegen, die
durch die Zeit und Abwechſelung der Augenblicke
wirken, die Energie zum Weſen haben, muͤſſen kei-

nen
a) Litt. B. Th. 4. p. 285.
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[115/0121] Erſtes Waͤldchen. nen voraus hat: naͤmlich ein hoͤchſtes Jdeal der Schoͤnheit fuͤr das Auge, und fuͤr die Phantaſie die ſtille Ruhe des griechiſchen Ausdrucks: denn beide ſind die Mittel, uns in den Armen einer ewigen Entzuͤckung, und in dem Abgrunde eines langen ſe- ligen Anblicks zu erhalten. „Wie kommts, fragt ein Philoſoph des Schoͤ- „nen a), daß es nur in der Malerei und Bildhau- „erkunſt eine Jdealſchoͤnheit, ein aliquid immen- „ſum infinitumque giebt, daß ſich die Kuͤnſtler in „der Einbildung zum Muſter vorſtellen, und in „der Dichtkunſt nicht?„ Jch glaube nicht, daß er ſich dieſe Frage von Seiten der Kunſt durch die Be- merkung aufgeloͤſet, „daß in den ſchoͤnen Kuͤnſten „das Jdealſchoͤne am ſchwerſten zu erreichen ſey„ denn die Frage bleibt dieſelbe: „warum muß denn „ein ſo ſchweres Ziel erreichet ſeyn?„ Aus keiner Urſache glaube ich, als weil die Kunſt nur Werke liefert, die Einen Augenblick vorſtellen, und zu einem großen Anblicke gebildet ſind: die alſo ihren Au- genblick ſo annehmlich, ſo ſchoͤn machen muͤſſen, daß nichts druͤber, daß die Seele in Betrach- tung deſſelben verſunken, gleichſam ruhe, und das Maas der voruͤbergehenden Zeit verliere. Die ſchoͤnen Kuͤnſte und Wiſſenſchaften dagegen, die durch die Zeit und Abwechſelung der Augenblicke wirken, die Energie zum Weſen haben, muͤſſen kei- nen a) Litt. B. Th. 4. p. 285. H 2

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/121>, abgerufen am 10.05.2024.