[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. nen einzelnen Augenblick ein Höchstes liefern, nieauch unsere Seele in dieß augenblickliche Höchste verschlingen wollen; denn sonst wird eben die An- nehmlichkeit gestört, die in der Folge, in der Ver- bindung und Abwechselung dieser Augenblicke und Handlungen beruhet, und jeden Augenblick nur also als ein Glied der Kette, nicht weiter nutzet. Wird einer dieser Augenblicke, Zustände und Handlungen, eine Jnsel, ein abgetrenntes Höchstes, so geht das Wesen der energischen Kunst verlohren. Jst aber wiederum der eine ewige Augenblick der bildenden Kunst nicht so, daß er auch einen ewigen Anblick gewähren könnte, so ist ihr Wesen auch nicht erreicht. Bei Körpern ist dieser einige ewige Anblick die voll- kommene Schönheit; und sofern die Seele durch den Körper wirken soll, ists die hohe griechische Ru- he. Diese ist zwischen der todten Unthätigkeit, und zwischen der aufgebrachten übertriebnen Wir- kung mitten inne; die Einbildungskraft kann auf beide Seiten weiter hinschweben, und hat also in diesem Anblicke der Seele die längste Unterhaltung. Todte Unthätigkeit schneidet den Faden der Gedan- ken mit einem Schnitte ab; die Figur ist todt, wer will sie erwecken? Das Uebertriebne im Ausdrucke kürzet wieder auf der andern Seite den Flug der Phantasie; denn wer kann sich über das Höchste noch etwas Höheres gedenken? Aber die selige Ruhe des griechischen Ausdrucks wieget unsre Seele nach bei-
Kritiſche Waͤlder. nen einzelnen Augenblick ein Hoͤchſtes liefern, nieauch unſere Seele in dieß augenblickliche Hoͤchſte verſchlingen wollen; denn ſonſt wird eben die An- nehmlichkeit geſtoͤrt, die in der Folge, in der Ver- bindung und Abwechſelung dieſer Augenblicke und Handlungen beruhet, und jeden Augenblick nur alſo als ein Glied der Kette, nicht weiter nutzet. Wird einer dieſer Augenblicke, Zuſtaͤnde und Handlungen, eine Jnſel, ein abgetrenntes Hoͤchſtes, ſo geht das Weſen der energiſchen Kunſt verlohren. Jſt aber wiederum der eine ewige Augenblick der bildenden Kunſt nicht ſo, daß er auch einen ewigen Anblick gewaͤhren koͤnnte, ſo iſt ihr Weſen auch nicht erreicht. Bei Koͤrpern iſt dieſer einige ewige Anblick die voll- kommene Schoͤnheit; und ſofern die Seele durch den Koͤrper wirken ſoll, iſts die hohe griechiſche Ru- he. Dieſe iſt zwiſchen der todten Unthaͤtigkeit, und zwiſchen der aufgebrachten uͤbertriebnen Wir- kung mitten inne; die Einbildungskraft kann auf beide Seiten weiter hinſchweben, und hat alſo in dieſem Anblicke der Seele die laͤngſte Unterhaltung. Todte Unthaͤtigkeit ſchneidet den Faden der Gedan- ken mit einem Schnitte ab; die Figur iſt todt, wer will ſie erwecken? Das Uebertriebne im Ausdrucke kuͤrzet wieder auf der andern Seite den Flug der Phantaſie; denn wer kann ſich uͤber das Hoͤchſte noch etwas Hoͤheres gedenken? Aber die ſelige Ruhe des griechiſchen Ausdrucks wieget unſre Seele nach bei-
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Kritiſche Waͤlder.
nen einzelnen Augenblick ein Hoͤchſtes liefern, nie
auch unſere Seele in dieß augenblickliche Hoͤchſte
verſchlingen wollen; denn ſonſt wird eben die An-
nehmlichkeit geſtoͤrt, die in der Folge, in der Ver-
bindung und Abwechſelung dieſer Augenblicke und
Handlungen beruhet, und jeden Augenblick nur alſo
als ein Glied der Kette, nicht weiter nutzet. Wird
einer dieſer Augenblicke, Zuſtaͤnde und Handlungen,
eine Jnſel, ein abgetrenntes Hoͤchſtes, ſo geht das
Weſen der energiſchen Kunſt verlohren. Jſt aber
wiederum der eine ewige Augenblick der bildenden
Kunſt nicht ſo, daß er auch einen ewigen Anblick
gewaͤhren koͤnnte, ſo iſt ihr Weſen auch nicht erreicht.
Bei Koͤrpern iſt dieſer einige ewige Anblick die voll-
kommene Schoͤnheit; und ſofern die Seele durch
den Koͤrper wirken ſoll, iſts die hohe griechiſche Ru-
he. Dieſe iſt zwiſchen der todten Unthaͤtigkeit,
und zwiſchen der aufgebrachten uͤbertriebnen Wir-
kung mitten inne; die Einbildungskraft kann auf
beide Seiten weiter hinſchweben, und hat alſo in
dieſem Anblicke der Seele die laͤngſte Unterhaltung.
Todte Unthaͤtigkeit ſchneidet den Faden der Gedan-
ken mit einem Schnitte ab; die Figur iſt todt, wer
will ſie erwecken? Das Uebertriebne im Ausdrucke
kuͤrzet wieder auf der andern Seite den Flug der
Phantaſie; denn wer kann ſich uͤber das Hoͤchſte
noch etwas Hoͤheres gedenken? Aber die ſelige Ruhe
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