Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Wäldchen.
machen. Er dichtet bei seinem Laokoon so weit in
die Welt hinein, daß die dichterische Fabel kaum
mehr Fabel bleibt: sie wird ein abentheuerliches Rie-
senmährchen. Warum muß unter dem warnenden
Trojaner die Erde erbeben? Wenn Troja durch die
List der Minerva fallen soll; was brauchts die ganze
Macht Jupiters, Neptunus und Pluto? Warum
müssen seine unschuldigen Augen verblinden? war-
um muß er rasen? Etwa um noch blind und ver-
stockt fortzufahren in seinem Rathe, und also als
ein trotzender Gigante gegen die Götter zu erschei-
nen? -- Etwa weiter durch diesen verstockten Rath
noch erst die neue Verbrecherstrafe der Drachen zu
verdienen -- Was brauchts den gutgesinneten Pa-
trioten erst in einen Himmelsstürmer, in einen tollen
Verbrecher umzuschaffen, und nachher gar -- Un-
schuldige für ihn leiden zu lassen? Laokoon selbst ge-
schieht nichts von den Drachen: seine armen un-
schuldigen Kinder werden ergriffen, und zerfleischt,
-- abentheuerliche, abscheuliche Scene, ohne Wahl
und Zweck, ohne Zusammenordnung und dichtenden
Verstand!

Jch bleibe also bei Virgil und dem Künstler.
Virgil mag aus Pisander, aus Euphormio, und
woher es sey, geschöpft haben: so schöpfte er als Dich-
ter, als epischer Dichter, als Homer der Römer.
Er kleidete also auch diese Erzälung in ein episches
Gewand: er goß sie in eine Art von Neuhomeri-

scher
G

Erſtes Waͤldchen.
machen. Er dichtet bei ſeinem Laokoon ſo weit in
die Welt hinein, daß die dichteriſche Fabel kaum
mehr Fabel bleibt: ſie wird ein abentheuerliches Rie-
ſenmaͤhrchen. Warum muß unter dem warnenden
Trojaner die Erde erbeben? Wenn Troja durch die
Liſt der Minerva fallen ſoll; was brauchts die ganze
Macht Jupiters, Neptunus und Pluto? Warum
muͤſſen ſeine unſchuldigen Augen verblinden? war-
um muß er raſen? Etwa um noch blind und ver-
ſtockt fortzufahren in ſeinem Rathe, und alſo als
ein trotzender Gigante gegen die Goͤtter zu erſchei-
nen? — Etwa weiter durch dieſen verſtockten Rath
noch erſt die neue Verbrecherſtrafe der Drachen zu
verdienen — Was brauchts den gutgeſinneten Pa-
trioten erſt in einen Himmelsſtuͤrmer, in einen tollen
Verbrecher umzuſchaffen, und nachher gar — Un-
ſchuldige fuͤr ihn leiden zu laſſen? Laokoon ſelbſt ge-
ſchieht nichts von den Drachen: ſeine armen un-
ſchuldigen Kinder werden ergriffen, und zerfleiſcht,
— abentheuerliche, abſcheuliche Scene, ohne Wahl
und Zweck, ohne Zuſammenordnung und dichtenden
Verſtand!

Jch bleibe alſo bei Virgil und dem Kuͤnſtler.
Virgil mag aus Piſander, aus Euphormio, und
woher es ſey, geſchoͤpft haben: ſo ſchoͤpfte er als Dich-
ter, als epiſcher Dichter, als Homer der Roͤmer.
Er kleidete alſo auch dieſe Erzaͤlung in ein epiſches
Gewand: er goß ſie in eine Art von Neuhomeri-

ſcher
G
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0103" n="97"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Er&#x017F;tes Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
machen. Er dichtet bei &#x017F;einem Laokoon &#x017F;o weit in<lb/>
die Welt hinein, daß die dichteri&#x017F;che Fabel kaum<lb/>
mehr Fabel bleibt: &#x017F;ie wird ein abentheuerliches Rie-<lb/>
&#x017F;enma&#x0364;hrchen. Warum muß unter dem warnenden<lb/>
Trojaner die Erde erbeben? Wenn Troja durch die<lb/>
Li&#x017F;t der Minerva fallen &#x017F;oll; was brauchts die ganze<lb/>
Macht Jupiters, Neptunus und Pluto? Warum<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eine un&#x017F;chuldigen Augen verblinden? war-<lb/>
um muß er ra&#x017F;en? Etwa um noch blind und ver-<lb/>
&#x017F;tockt fortzufahren in &#x017F;einem Rathe, und al&#x017F;o als<lb/>
ein trotzender Gigante gegen die Go&#x0364;tter zu er&#x017F;chei-<lb/>
nen? &#x2014; Etwa weiter durch die&#x017F;en ver&#x017F;tockten Rath<lb/>
noch er&#x017F;t die neue Verbrecher&#x017F;trafe der Drachen zu<lb/>
verdienen &#x2014; Was brauchts den gutge&#x017F;inneten Pa-<lb/>
trioten er&#x017F;t in einen Himmels&#x017F;tu&#x0364;rmer, in einen tollen<lb/>
Verbrecher umzu&#x017F;chaffen, und nachher gar &#x2014; Un-<lb/>
&#x017F;chuldige fu&#x0364;r ihn leiden zu la&#x017F;&#x017F;en? Laokoon &#x017F;elb&#x017F;t ge-<lb/>
&#x017F;chieht nichts von den Drachen: &#x017F;eine armen un-<lb/>
&#x017F;chuldigen Kinder werden ergriffen, und zerflei&#x017F;cht,<lb/>
&#x2014; abentheuerliche, ab&#x017F;cheuliche Scene, ohne Wahl<lb/>
und Zweck, ohne Zu&#x017F;ammenordnung und dichtenden<lb/>
Ver&#x017F;tand!</p><lb/>
          <p>Jch bleibe al&#x017F;o bei Virgil und dem Ku&#x0364;n&#x017F;tler.<lb/>
Virgil mag aus Pi&#x017F;ander, aus Euphormio, und<lb/>
woher es &#x017F;ey, ge&#x017F;cho&#x0364;pft haben: &#x017F;o &#x017F;cho&#x0364;pfte er als Dich-<lb/>
ter, als epi&#x017F;cher Dichter, als Homer der Ro&#x0364;mer.<lb/>
Er kleidete al&#x017F;o auch die&#x017F;e Erza&#x0364;lung in ein epi&#x017F;ches<lb/>
Gewand: er goß &#x017F;ie in eine Art von Neuhomeri-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;cher</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[97/0103] Erſtes Waͤldchen. machen. Er dichtet bei ſeinem Laokoon ſo weit in die Welt hinein, daß die dichteriſche Fabel kaum mehr Fabel bleibt: ſie wird ein abentheuerliches Rie- ſenmaͤhrchen. Warum muß unter dem warnenden Trojaner die Erde erbeben? Wenn Troja durch die Liſt der Minerva fallen ſoll; was brauchts die ganze Macht Jupiters, Neptunus und Pluto? Warum muͤſſen ſeine unſchuldigen Augen verblinden? war- um muß er raſen? Etwa um noch blind und ver- ſtockt fortzufahren in ſeinem Rathe, und alſo als ein trotzender Gigante gegen die Goͤtter zu erſchei- nen? — Etwa weiter durch dieſen verſtockten Rath noch erſt die neue Verbrecherſtrafe der Drachen zu verdienen — Was brauchts den gutgeſinneten Pa- trioten erſt in einen Himmelsſtuͤrmer, in einen tollen Verbrecher umzuſchaffen, und nachher gar — Un- ſchuldige fuͤr ihn leiden zu laſſen? Laokoon ſelbſt ge- ſchieht nichts von den Drachen: ſeine armen un- ſchuldigen Kinder werden ergriffen, und zerfleiſcht, — abentheuerliche, abſcheuliche Scene, ohne Wahl und Zweck, ohne Zuſammenordnung und dichtenden Verſtand! Jch bleibe alſo bei Virgil und dem Kuͤnſtler. Virgil mag aus Piſander, aus Euphormio, und woher es ſey, geſchoͤpft haben: ſo ſchoͤpfte er als Dich- ter, als epiſcher Dichter, als Homer der Roͤmer. Er kleidete alſo auch dieſe Erzaͤlung in ein epiſches Gewand: er goß ſie in eine Art von Neuhomeri- ſcher G

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/103
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/103>, abgerufen am 10.05.2024.