[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. machen. Er dichtet bei seinem Laokoon so weit indie Welt hinein, daß die dichterische Fabel kaum mehr Fabel bleibt: sie wird ein abentheuerliches Rie- senmährchen. Warum muß unter dem warnenden Trojaner die Erde erbeben? Wenn Troja durch die List der Minerva fallen soll; was brauchts die ganze Macht Jupiters, Neptunus und Pluto? Warum müssen seine unschuldigen Augen verblinden? war- um muß er rasen? Etwa um noch blind und ver- stockt fortzufahren in seinem Rathe, und also als ein trotzender Gigante gegen die Götter zu erschei- nen? -- Etwa weiter durch diesen verstockten Rath noch erst die neue Verbrecherstrafe der Drachen zu verdienen -- Was brauchts den gutgesinneten Pa- trioten erst in einen Himmelsstürmer, in einen tollen Verbrecher umzuschaffen, und nachher gar -- Un- schuldige für ihn leiden zu lassen? Laokoon selbst ge- schieht nichts von den Drachen: seine armen un- schuldigen Kinder werden ergriffen, und zerfleischt, -- abentheuerliche, abscheuliche Scene, ohne Wahl und Zweck, ohne Zusammenordnung und dichtenden Verstand! Jch bleibe also bei Virgil und dem Künstler. scher G
Erſtes Waͤldchen. machen. Er dichtet bei ſeinem Laokoon ſo weit indie Welt hinein, daß die dichteriſche Fabel kaum mehr Fabel bleibt: ſie wird ein abentheuerliches Rie- ſenmaͤhrchen. Warum muß unter dem warnenden Trojaner die Erde erbeben? Wenn Troja durch die Liſt der Minerva fallen ſoll; was brauchts die ganze Macht Jupiters, Neptunus und Pluto? Warum muͤſſen ſeine unſchuldigen Augen verblinden? war- um muß er raſen? Etwa um noch blind und ver- ſtockt fortzufahren in ſeinem Rathe, und alſo als ein trotzender Gigante gegen die Goͤtter zu erſchei- nen? — Etwa weiter durch dieſen verſtockten Rath noch erſt die neue Verbrecherſtrafe der Drachen zu verdienen — Was brauchts den gutgeſinneten Pa- trioten erſt in einen Himmelsſtuͤrmer, in einen tollen Verbrecher umzuſchaffen, und nachher gar — Un- ſchuldige fuͤr ihn leiden zu laſſen? Laokoon ſelbſt ge- ſchieht nichts von den Drachen: ſeine armen un- ſchuldigen Kinder werden ergriffen, und zerfleiſcht, — abentheuerliche, abſcheuliche Scene, ohne Wahl und Zweck, ohne Zuſammenordnung und dichtenden Verſtand! Jch bleibe alſo bei Virgil und dem Kuͤnſtler. ſcher G
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Erſtes Waͤldchen.
machen. Er dichtet bei ſeinem Laokoon ſo weit in
die Welt hinein, daß die dichteriſche Fabel kaum
mehr Fabel bleibt: ſie wird ein abentheuerliches Rie-
ſenmaͤhrchen. Warum muß unter dem warnenden
Trojaner die Erde erbeben? Wenn Troja durch die
Liſt der Minerva fallen ſoll; was brauchts die ganze
Macht Jupiters, Neptunus und Pluto? Warum
muͤſſen ſeine unſchuldigen Augen verblinden? war-
um muß er raſen? Etwa um noch blind und ver-
ſtockt fortzufahren in ſeinem Rathe, und alſo als
ein trotzender Gigante gegen die Goͤtter zu erſchei-
nen? — Etwa weiter durch dieſen verſtockten Rath
noch erſt die neue Verbrecherſtrafe der Drachen zu
verdienen — Was brauchts den gutgeſinneten Pa-
trioten erſt in einen Himmelsſtuͤrmer, in einen tollen
Verbrecher umzuſchaffen, und nachher gar — Un-
ſchuldige fuͤr ihn leiden zu laſſen? Laokoon ſelbſt ge-
ſchieht nichts von den Drachen: ſeine armen un-
ſchuldigen Kinder werden ergriffen, und zerfleiſcht,
— abentheuerliche, abſcheuliche Scene, ohne Wahl
und Zweck, ohne Zuſammenordnung und dichtenden
Verſtand!
Jch bleibe alſo bei Virgil und dem Kuͤnſtler.
Virgil mag aus Piſander, aus Euphormio, und
woher es ſey, geſchoͤpft haben: ſo ſchoͤpfte er als Dich-
ter, als epiſcher Dichter, als Homer der Roͤmer.
Er kleidete alſo auch dieſe Erzaͤlung in ein epiſches
Gewand: er goß ſie in eine Art von Neuhomeri-
ſcher
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