Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

"Nicht die Wahrheit, in deren Besitz ir-
gend ein Mensch ist oder zu seyn vermeynet,
sondern die aufrichtige Mühe, die er ange-
wandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen,
macht den Werth des Menschen. Denn nicht
durch den Besitz, sondern durch die Nachfor-
schung der Wahrheit erweitern sich seine Kräf-
te, worinn allein seine immer wachsende Voll-
kommenheit bestehet. Der Besitz macht ru-
hig, träge, stolz --

Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahr-
heit, und in seiner Linken den einzigen immer
regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem
Zusatz, mich immer und ewig zu irren, *) ver-
schlossen hielte und spräche zu mir: wähle!
Ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke, und

*) D. i. der Wahrheit immer zu nahen: denn
das schließt der Trieb nach Wahrheit und
ihr Begriff selbst ein.
A. d. H.

„Nicht die Wahrheit, in deren Beſitz ir-
gend ein Menſch iſt oder zu ſeyn vermeynet,
ſondern die aufrichtige Muͤhe, die er ange-
wandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen,
macht den Werth des Menſchen. Denn nicht
durch den Beſitz, ſondern durch die Nachfor-
ſchung der Wahrheit erweitern ſich ſeine Kraͤf-
te, worinn allein ſeine immer wachſende Voll-
kommenheit beſtehet. Der Beſitz macht ru-
hig, traͤge, ſtolz —

Wenn Gott in ſeiner Rechten alle Wahr-
heit, und in ſeiner Linken den einzigen immer
regen Trieb nach Wahrheit, obſchon mit dem
Zuſatz, mich immer und ewig zu irren, *) ver-
ſchloſſen hielte und ſpraͤche zu mir: waͤhle!
Ich fiele ihm mit Demuth in ſeine Linke, und

*) D. i. der Wahrheit immer zu nahen: denn
das ſchließt der Trieb nach Wahrheit und
ihr Begriff ſelbſt ein.
A. d. H.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0150" n="143"/>
        <p>&#x201E;Nicht die Wahrheit, in deren Be&#x017F;itz ir-<lb/>
gend ein Men&#x017F;ch i&#x017F;t oder zu &#x017F;eyn vermeynet,<lb/>
&#x017F;ondern die aufrichtige Mu&#x0364;he, die er ange-<lb/>
wandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen,<lb/>
macht den Werth des Men&#x017F;chen. Denn nicht<lb/>
durch den Be&#x017F;itz, &#x017F;ondern durch die Nachfor-<lb/>
&#x017F;chung der Wahrheit erweitern &#x017F;ich &#x017F;eine Kra&#x0364;f-<lb/>
te, worinn allein &#x017F;eine immer wach&#x017F;ende Voll-<lb/>
kommenheit be&#x017F;tehet. Der Be&#x017F;itz macht ru-<lb/>
hig, tra&#x0364;ge, &#x017F;tolz &#x2014; </p><lb/>
        <p>Wenn Gott in &#x017F;einer Rechten alle Wahr-<lb/>
heit, und in &#x017F;einer Linken den einzigen immer<lb/>
regen Trieb nach Wahrheit, ob&#x017F;chon mit dem<lb/>
Zu&#x017F;atz, mich immer und ewig zu irren, <note place="foot" n="*)">D. i. der Wahrheit immer zu nahen: denn<lb/>
das &#x017F;chließt der Trieb nach Wahrheit und<lb/>
ihr Begriff &#x017F;elb&#x017F;t ein.<lb/>
A. d. H.</note> ver-<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en hielte und &#x017F;pra&#x0364;che zu mir: wa&#x0364;hle!<lb/>
Ich fiele ihm mit Demuth in &#x017F;eine Linke, und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[143/0150] „Nicht die Wahrheit, in deren Beſitz ir- gend ein Menſch iſt oder zu ſeyn vermeynet, ſondern die aufrichtige Muͤhe, die er ange- wandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menſchen. Denn nicht durch den Beſitz, ſondern durch die Nachfor- ſchung der Wahrheit erweitern ſich ſeine Kraͤf- te, worinn allein ſeine immer wachſende Voll- kommenheit beſtehet. Der Beſitz macht ru- hig, traͤge, ſtolz — Wenn Gott in ſeiner Rechten alle Wahr- heit, und in ſeiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obſchon mit dem Zuſatz, mich immer und ewig zu irren, *) ver- ſchloſſen hielte und ſpraͤche zu mir: waͤhle! Ich fiele ihm mit Demuth in ſeine Linke, und *) D. i. der Wahrheit immer zu nahen: denn das ſchließt der Trieb nach Wahrheit und ihr Begriff ſelbſt ein. A. d. H.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/150
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/150>, abgerufen am 17.05.2024.