Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 6. Riga, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

ren wir bei dem Dichter die Klagen
Achills um seinen Patroklus, der
Elektra um ihren Orest, der Antigo-
ne um ihren Bruder Polynices; hören
wir den Priamus um die Leiche seines
Sohnes bitten, den Ajax sein nachblei-
bendes Kind segnen; begleiten wir bei Eu-
ripides die jungfräuliche Iphigenia
zum Opferaltar, die Polyxena zu
Achills Grabe; und sehen jene den Orest
wiedererkennen am Altar der Diana;
und hören Hippolytus Klagen über die
Liebe seiner Mutter u. f. -- so schließt
sich uns das Herz auf zu diesen edeln Ge-
stalten, auch wenn sie in der Kunst er-
scheinen. Wir verstehen die Sprache, die
um Orest und Pylades, um Iphige-
niens und Hippolytus stumme Lippen
schwebet; wir begreifen die Seelenvolle
Einfalt, die uns in jeder Griechischen

ren wir bei dem Dichter die Klagen
Achills um ſeinen Patroklus, der
Elektra um ihren Oreſt, der Antigo-
ne um ihren Bruder Polynices; hoͤren
wir den Priamus um die Leiche ſeines
Sohnes bitten, den Ajax ſein nachblei-
bendes Kind ſegnen; begleiten wir bei Eu-
ripides die jungfraͤuliche Iphigenia
zum Opferaltar, die Polyxena zu
Achills Grabe; und ſehen jene den Oreſt
wiedererkennen am Altar der Diana;
und hoͤren Hippolytus Klagen uͤber die
Liebe ſeiner Mutter u. f. — ſo ſchließt
ſich uns das Herz auf zu dieſen edeln Ge-
ſtalten, auch wenn ſie in der Kunſt er-
ſcheinen. Wir verſtehen die Sprache, die
um Oreſt und Pylades, um Iphige-
niens und Hippolytus ſtumme Lippen
ſchwebet; wir begreifen die Seelenvolle
Einfalt, die uns in jeder Griechiſchen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0138" n="123"/>
ren wir bei dem Dichter die Klagen<lb/><hi rendition="#g">Achills</hi> um &#x017F;einen <hi rendition="#g">Patroklus</hi>, der<lb/><hi rendition="#g">Elektra</hi> um ihren <hi rendition="#g">Ore&#x017F;t</hi>, der <hi rendition="#g">Antigo</hi>-<lb/><hi rendition="#g">ne</hi> um ihren Bruder <hi rendition="#g">Polynices</hi>; ho&#x0364;ren<lb/>
wir den <hi rendition="#g">Priamus</hi> um die Leiche &#x017F;eines<lb/>
Sohnes bitten, den <hi rendition="#g">Ajax</hi> &#x017F;ein nachblei-<lb/>
bendes Kind &#x017F;egnen; begleiten wir bei <hi rendition="#g">Eu</hi>-<lb/><hi rendition="#g">ripides</hi> die jungfra&#x0364;uliche <hi rendition="#g">Iphigenia</hi><lb/>
zum Opferaltar, die <hi rendition="#g">Polyxena</hi> zu<lb/><hi rendition="#g">Achills</hi> Grabe; und &#x017F;ehen jene den <hi rendition="#g">Ore&#x017F;t</hi><lb/>
wiedererkennen am Altar der <hi rendition="#g">Diana</hi>;<lb/>
und ho&#x0364;ren <hi rendition="#g">Hippolytus</hi> Klagen u&#x0364;ber die<lb/>
Liebe &#x017F;einer Mutter u. f. &#x2014; &#x017F;o &#x017F;chließt<lb/>
&#x017F;ich uns das Herz auf zu die&#x017F;en edeln Ge-<lb/>
&#x017F;talten, auch wenn &#x017F;ie in der Kun&#x017F;t er-<lb/>
&#x017F;cheinen. Wir ver&#x017F;tehen die Sprache, die<lb/>
um <hi rendition="#g">Ore&#x017F;t</hi> und <hi rendition="#g">Pylades</hi>, um <hi rendition="#g">Iphige</hi>-<lb/><hi rendition="#g">niens</hi> und <hi rendition="#g">Hippolytus</hi> &#x017F;tumme Lippen<lb/>
&#x017F;chwebet; wir begreifen die Seelenvolle<lb/>
Einfalt, die uns in jeder Griechi&#x017F;chen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[123/0138] ren wir bei dem Dichter die Klagen Achills um ſeinen Patroklus, der Elektra um ihren Oreſt, der Antigo- ne um ihren Bruder Polynices; hoͤren wir den Priamus um die Leiche ſeines Sohnes bitten, den Ajax ſein nachblei- bendes Kind ſegnen; begleiten wir bei Eu- ripides die jungfraͤuliche Iphigenia zum Opferaltar, die Polyxena zu Achills Grabe; und ſehen jene den Oreſt wiedererkennen am Altar der Diana; und hoͤren Hippolytus Klagen uͤber die Liebe ſeiner Mutter u. f. — ſo ſchließt ſich uns das Herz auf zu dieſen edeln Ge- ſtalten, auch wenn ſie in der Kunſt er- ſcheinen. Wir verſtehen die Sprache, die um Oreſt und Pylades, um Iphige- niens und Hippolytus ſtumme Lippen ſchwebet; wir begreifen die Seelenvolle Einfalt, die uns in jeder Griechiſchen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet06_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet06_1795/138
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 6. Riga, 1795, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet06_1795/138>, abgerufen am 24.11.2024.