gattung haben? und wären die verschiednen Nationalbildun- gen, Sitten und Charaktere, insonderheit die so unterschiedne Sprachen der Völker nicht davon Erweise? Jedermann mei- ner Leser weiß, wie blendend diese Gründe von mehrern ge- lehrten und scharfsinnigen Geschichtforschern ausgeführt sind, so daß mans zuletzt als die gezwungenste Hypothese ansah, daß die Natur zwar überall Affen und Bären, aber nicht Menschen habe erschaffen können, und also dem Lauf ihrer andern Wir- kungen ganz zuwider, eben ihr zartestes Geschlecht, wenn sie es nur in Einem Paar hervorbrachte, durch diese ihr fremde Sparsamkeit tausendfacher Gefahr blosstellte. "Schauet noch jetzt, sagt man, die vielsamige Natur an, wie sie verschwendet! wie sie nicht nur Pflanzen und Gewächse, sondern auch Thiere und Menschen in ungezählten Keimen dem Untergange in den Schoos wirft! Und eben auf dem Punkt, da das menschliche Geschlecht zu gründen war: da sollte die gebährende, die in ihrer jungfräulichen Jugend an Samen aller Wesen und Ge- stalten so reiche Mutter, die wie der Bau der Erde zeigt, Mil- lionen lebendiger Geschöpfe in Einer Revolution aufopfern konnte, um neue Geschlechter zu gebähren; sie sollte damals an niedern Wesen sich erschöpft und ihr wildes Labyrinth voll Leben mit zwei schwachen Menschen vollendet haben?" Laßet uns sehen, wiefern auch diese glänzend-scheinbare Hypothese dem Gange der Cultur und Geschichte unsres Geschlechts ent-
sprechen
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gattung haben? und waͤren die verſchiednen Nationalbildun- gen, Sitten und Charaktere, inſonderheit die ſo unterſchiedne Sprachen der Voͤlker nicht davon Erweiſe? Jedermann mei- ner Leſer weiß, wie blendend dieſe Gruͤnde von mehrern ge- lehrten und ſcharfſinnigen Geſchichtforſchern ausgefuͤhrt ſind, ſo daß mans zuletzt als die gezwungenſte Hypotheſe anſah, daß die Natur zwar uͤberall Affen und Baͤren, aber nicht Menſchen habe erſchaffen koͤnnen, und alſo dem Lauf ihrer andern Wir- kungen ganz zuwider, eben ihr zarteſtes Geſchlecht, wenn ſie es nur in Einem Paar hervorbrachte, durch dieſe ihr fremde Sparſamkeit tauſendfacher Gefahr blosſtellte. ”Schauet noch jetzt, ſagt man, die vielſamige Natur an, wie ſie verſchwendet! wie ſie nicht nur Pflanzen und Gewaͤchſe, ſondern auch Thiere und Menſchen in ungezaͤhlten Keimen dem Untergange in den Schoos wirft! Und eben auf dem Punkt, da das menſchliche Geſchlecht zu gruͤnden war: da ſollte die gebaͤhrende, die in ihrer jungfraͤulichen Jugend an Samen aller Weſen und Ge- ſtalten ſo reiche Mutter, die wie der Bau der Erde zeigt, Mil- lionen lebendiger Geſchoͤpfe in Einer Revolution aufopfern konnte, um neue Geſchlechter zu gebaͤhren; ſie ſollte damals an niedern Weſen ſich erſchoͤpft und ihr wildes Labyrinth voll Leben mit zwei ſchwachen Menſchen vollendet haben?” Laßet uns ſehen, wiefern auch dieſe glaͤnzend-ſcheinbare Hypotheſe dem Gange der Cultur und Geſchichte unſres Geſchlechts ent-
ſprechen
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gattung haben? und waͤren die verſchiednen Nationalbildun-
gen, Sitten und Charaktere, inſonderheit die ſo unterſchiedne
Sprachen der Voͤlker nicht davon Erweiſe? Jedermann mei-
ner Leſer weiß, wie blendend dieſe Gruͤnde von mehrern ge-
lehrten und ſcharfſinnigen Geſchichtforſchern ausgefuͤhrt ſind,
ſo daß mans zuletzt als die gezwungenſte Hypotheſe anſah, daß
die Natur zwar uͤberall Affen und Baͤren, aber nicht Menſchen
habe erſchaffen koͤnnen, und alſo dem Lauf ihrer andern Wir-
kungen ganz zuwider, eben ihr zarteſtes Geſchlecht, wenn ſie
es nur in Einem Paar hervorbrachte, durch dieſe ihr fremde
Sparſamkeit tauſendfacher Gefahr blosſtellte. ”Schauet noch
jetzt, ſagt man, die vielſamige Natur an, wie ſie verſchwendet!
wie ſie nicht nur Pflanzen und Gewaͤchſe, ſondern auch Thiere
und Menſchen in ungezaͤhlten Keimen dem Untergange in den
Schoos wirft! Und eben auf dem Punkt, da das menſchliche
Geſchlecht zu gruͤnden war: da ſollte die gebaͤhrende, die in
ihrer jungfraͤulichen Jugend an Samen aller Weſen und Ge-
ſtalten ſo reiche Mutter, die wie der Bau der Erde zeigt, Mil-
lionen lebendiger Geſchoͤpfe in Einer Revolution aufopfern
konnte, um neue Geſchlechter zu gebaͤhren; ſie ſollte damals
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/297>, abgerufen am 24.11.2024.
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