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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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daß es sich endlich an sein Joch gewöhnet, es küßet und mit
Blumen umwindet? So beweinenswerth dies Schicksal der
Menschen im Leben und in der Geschichte ist, weil es beinah
keine Nation giebt, die ohne das Wunder einer völligen Palin-
genesie aus dem Abgrunde einer gewohnten Sklaverei je wie-
der aufgestanden wäre: so ist offenbar dies Elend nicht das
Werk der Natur, sondern der Menschen. Die Natur leitete
das Band der Gesellschaft nur bis auf Familien; weiterhin
ließ sie unserm Geschlecht die Freiheit, wie es sich einrichten,
wie es das feinste Werk seiner Kunst, den Staat bauen wollte.
Richteten sich die Menschen gut ein: so hätten sies gut; wähl-
ten oder duldeten sie Tyrannei und üble Regierungsformen:
so mochten sie ihre Last tragen. Die gute Mutter konnte nichts
thun, als sie durch Vernunft, durch Tradition der Geschichte
oder endlich durch das eigne Gefühl des Schmerzes und Elen-
des lehren. Nur also die innere Entartung des Menschenge-
schlechts hat den Lastern und Entartungen menschlicher Regie-
rung Raum gegeben: denn theilet sich im unterdrückendsten
Despotismus nicht immer der Sklave mit seinem Herrn im
Raube und ist nicht immer der Despot der ärgste Sklave?

Aber auch in der ärgsten Entartung verläßt die uner-
müdlich-gütige Mutter ihre Kinder nicht und weiß ihnen den
bittern Trank der Unterdrückung von Menschen wenigstens

durch

daß es ſich endlich an ſein Joch gewoͤhnet, es kuͤßet und mit
Blumen umwindet? So beweinenswerth dies Schickſal der
Menſchen im Leben und in der Geſchichte iſt, weil es beinah
keine Nation giebt, die ohne das Wunder einer voͤlligen Palin-
geneſie aus dem Abgrunde einer gewohnten Sklaverei je wie-
der aufgeſtanden waͤre: ſo iſt offenbar dies Elend nicht das
Werk der Natur, ſondern der Menſchen. Die Natur leitete
das Band der Geſellſchaft nur bis auf Familien; weiterhin
ließ ſie unſerm Geſchlecht die Freiheit, wie es ſich einrichten,
wie es das feinſte Werk ſeiner Kunſt, den Staat bauen wollte.
Richteten ſich die Menſchen gut ein: ſo haͤtten ſies gut; waͤhl-
ten oder duldeten ſie Tyrannei und uͤble Regierungsformen:
ſo mochten ſie ihre Laſt tragen. Die gute Mutter konnte nichts
thun, als ſie durch Vernunft, durch Tradition der Geſchichte
oder endlich durch das eigne Gefuͤhl des Schmerzes und Elen-
des lehren. Nur alſo die innere Entartung des Menſchenge-
ſchlechts hat den Laſtern und Entartungen menſchlicher Regie-
rung Raum gegeben: denn theilet ſich im unterdruͤckendſten
Deſpotismus nicht immer der Sklave mit ſeinem Herrn im
Raube und iſt nicht immer der Deſpot der aͤrgſte Sklave?

Aber auch in der aͤrgſten Entartung verlaͤßt die uner-
muͤdlich-guͤtige Mutter ihre Kinder nicht und weiß ihnen den
bittern Trank der Unterdruͤckung von Menſchen wenigſtens

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[258/0270] daß es ſich endlich an ſein Joch gewoͤhnet, es kuͤßet und mit Blumen umwindet? So beweinenswerth dies Schickſal der Menſchen im Leben und in der Geſchichte iſt, weil es beinah keine Nation giebt, die ohne das Wunder einer voͤlligen Palin- geneſie aus dem Abgrunde einer gewohnten Sklaverei je wie- der aufgeſtanden waͤre: ſo iſt offenbar dies Elend nicht das Werk der Natur, ſondern der Menſchen. Die Natur leitete das Band der Geſellſchaft nur bis auf Familien; weiterhin ließ ſie unſerm Geſchlecht die Freiheit, wie es ſich einrichten, wie es das feinſte Werk ſeiner Kunſt, den Staat bauen wollte. Richteten ſich die Menſchen gut ein: ſo haͤtten ſies gut; waͤhl- ten oder duldeten ſie Tyrannei und uͤble Regierungsformen: ſo mochten ſie ihre Laſt tragen. Die gute Mutter konnte nichts thun, als ſie durch Vernunft, durch Tradition der Geſchichte oder endlich durch das eigne Gefuͤhl des Schmerzes und Elen- des lehren. Nur alſo die innere Entartung des Menſchenge- ſchlechts hat den Laſtern und Entartungen menſchlicher Regie- rung Raum gegeben: denn theilet ſich im unterdruͤckendſten Deſpotismus nicht immer der Sklave mit ſeinem Herrn im Raube und iſt nicht immer der Deſpot der aͤrgſte Sklave? Aber auch in der aͤrgſten Entartung verlaͤßt die uner- muͤdlich-guͤtige Mutter ihre Kinder nicht und weiß ihnen den bittern Trank der Unterdruͤckung von Menſchen wenigſtens durch

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/270>, abgerufen am 21.05.2024.