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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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Buch der Zeiten verzeichnet. Die berühmtesten Namen der
Welt sind Würger des Menschengeschlechts, gekrönte oder nach
Kronen ringende Henker gewesen, und was noch trauriger ist,
so standen oft die edelsten Menschen Nothgedrungen auf die-
sem schwarzen Schaugerüst der Unterjochung ihrer Brüder.
Woher kommts daß die Geschichte der Weltreiche mit so we-
nig vernünftigen End-Resultaten geschrieben worden? Weil
ihren größesten und meisten Begebenheiten nach, sie mit wenig
vernünftigen End-Resultaten geführt ist: denn nicht Huma-
nität sondern Leidenschaften haben sich der Erde bemächtigt
und ihre Völker wie wilde Thiere zusammen und gegen einan-
der getrieben. Hätte es der Vorsehung gefallen, uns durch
höhere Wesen regieren zu lassen: wie anders wäre die Men-
schengeschichte: nun aber waren es meistens Helden, d. i. ehr-
süchtige, mit Gewalt begabte, oder listige und unternehmende
Menschen, die den Faden der Begebenheiten nach Leidenschaften
anspannen und wie es das Schicksal wollte, ihn fortwebten. Wenn
kein Punkt der Weltgeschichte uns die Niedrigkeit unsres Ge-
schlechts zeigte, so wiese es uns die Geschichte der Regierungen des-
selben, nach welcher unsre Erde ihrem größten Theil nach nicht Er-
de, sondern Mars oder der Kinderfressende Saturn heißen sollte.

Wie nun? sollen wir die Vorsehung darüber ankla-
gen, daß sie die Erdstriche unsrer Kugel so ungleich schuf
und auch unter den Menschen ihre Gaben so ungleich

ver-

Buch der Zeiten verzeichnet. Die beruͤhmteſten Namen der
Welt ſind Wuͤrger des Menſchengeſchlechts, gekroͤnte oder nach
Kronen ringende Henker geweſen, und was noch trauriger iſt,
ſo ſtanden oft die edelſten Menſchen Nothgedrungen auf die-
ſem ſchwarzen Schaugeruͤſt der Unterjochung ihrer Bruͤder.
Woher kommts daß die Geſchichte der Weltreiche mit ſo we-
nig vernuͤnftigen End-Reſultaten geſchrieben worden? Weil
ihren groͤßeſten und meiſten Begebenheiten nach, ſie mit wenig
vernuͤnftigen End-Reſultaten gefuͤhrt iſt: denn nicht Huma-
nitaͤt ſondern Leidenſchaften haben ſich der Erde bemaͤchtigt
und ihre Voͤlker wie wilde Thiere zuſammen und gegen einan-
der getrieben. Haͤtte es der Vorſehung gefallen, uns durch
hoͤhere Weſen regieren zu laſſen: wie anders waͤre die Men-
ſchengeſchichte: nun aber waren es meiſtens Helden, d. i. ehr-
ſuͤchtige, mit Gewalt begabte, oder liſtige und unternehmende
Menſchen, die den Faden der Begebenheiten nach Leidenſchaften
anſpannen und wie es das Schickſal wollte, ihn fortwebten. Wenn
kein Punkt der Weltgeſchichte uns die Niedrigkeit unſres Ge-
ſchlechts zeigte, ſo wieſe es uns die Geſchichte der Regierungen deſ-
ſelben, nach welcher unſre Erde ihrem groͤßten Theil nach nicht Er-
de, ſondern Mars oder der Kinderfreſſende Saturn heißen ſollte.

Wie nun? ſollen wir die Vorſehung daruͤber ankla-
gen, daß ſie die Erdſtriche unſrer Kugel ſo ungleich ſchuf
und auch unter den Menſchen ihre Gaben ſo ungleich

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[256/0268] Buch der Zeiten verzeichnet. Die beruͤhmteſten Namen der Welt ſind Wuͤrger des Menſchengeſchlechts, gekroͤnte oder nach Kronen ringende Henker geweſen, und was noch trauriger iſt, ſo ſtanden oft die edelſten Menſchen Nothgedrungen auf die- ſem ſchwarzen Schaugeruͤſt der Unterjochung ihrer Bruͤder. Woher kommts daß die Geſchichte der Weltreiche mit ſo we- nig vernuͤnftigen End-Reſultaten geſchrieben worden? Weil ihren groͤßeſten und meiſten Begebenheiten nach, ſie mit wenig vernuͤnftigen End-Reſultaten gefuͤhrt iſt: denn nicht Huma- nitaͤt ſondern Leidenſchaften haben ſich der Erde bemaͤchtigt und ihre Voͤlker wie wilde Thiere zuſammen und gegen einan- der getrieben. Haͤtte es der Vorſehung gefallen, uns durch hoͤhere Weſen regieren zu laſſen: wie anders waͤre die Men- ſchengeſchichte: nun aber waren es meiſtens Helden, d. i. ehr- ſuͤchtige, mit Gewalt begabte, oder liſtige und unternehmende Menſchen, die den Faden der Begebenheiten nach Leidenſchaften anſpannen und wie es das Schickſal wollte, ihn fortwebten. Wenn kein Punkt der Weltgeſchichte uns die Niedrigkeit unſres Ge- ſchlechts zeigte, ſo wieſe es uns die Geſchichte der Regierungen deſ- ſelben, nach welcher unſre Erde ihrem groͤßten Theil nach nicht Er- de, ſondern Mars oder der Kinderfreſſende Saturn heißen ſollte. Wie nun? ſollen wir die Vorſehung daruͤber ankla- gen, daß ſie die Erdſtriche unſrer Kugel ſo ungleich ſchuf und auch unter den Menſchen ihre Gaben ſo ungleich ver-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/268>, abgerufen am 24.11.2024.