ihrer Tradition und Cultur ist nichts als eine Folge dieses aufgelösten göttlichen Räthsels. Was uns dasselbe noch son- derbarer macht, ist, daß wir selbst nach seiner Auflösung bei täglichem Gebrauch der Rede nicht einmal den Zusammenhang der Werkzeuge dazu begreifen. Gehör und Sprache hangen zusammen: denn bei den Abartungen der Geschöpfe verändern sich ihre Organe offenbar mit einander. Auch sehen wir, daß zu ihrem Consensus der ganze Körper eingerichtet worden; die innere Art der Zusammenwirkung aber begreifen wir nicht. Daß alle Affekten, insonderheit Schmerz und Freude Töne wer- den, daß was unser Ohr hört, auch die Zunge reget, daß Bil- der und Empfindungen geistige Merkmale, daß diese Merk- male bedeutende, ja bewegende Sprache seyn können -- das Alles ist ein Concent so vieler Anlagen, ein freiwilliger Bund gleichsam, den der Schöpfer zwischen den verschiedensten Sin- nen und Trieben, Kräften und Gliedern seines Geschöpfs eben so wunderbar hat errichten wollen, als er Leib und Seele zu- sammenfügte.
Wie sonderbar, daß ein bewegter Lufthauch das einzige, wenigstens das beste Mittel unsrer Gedanken und Empfindun- gen seyn sollte! Ohne sein unbegreifliches Band mit allen ihm so ungleichen Handlungen unsrer Seele wären diese Handlun- gen ungeschehen, die feinen Zubereitungen unsres Gehirns mü-
ßig,
ihrer Tradition und Cultur iſt nichts als eine Folge dieſes aufgeloͤſten goͤttlichen Raͤthſels. Was uns daſſelbe noch ſon- derbarer macht, iſt, daß wir ſelbſt nach ſeiner Aufloͤſung bei taͤglichem Gebrauch der Rede nicht einmal den Zuſammenhang der Werkzeuge dazu begreifen. Gehoͤr und Sprache hangen zuſammen: denn bei den Abartungen der Geſchoͤpfe veraͤndern ſich ihre Organe offenbar mit einander. Auch ſehen wir, daß zu ihrem Conſenſus der ganze Koͤrper eingerichtet worden; die innere Art der Zuſammenwirkung aber begreifen wir nicht. Daß alle Affekten, inſonderheit Schmerz und Freude Toͤne wer- den, daß was unſer Ohr hoͤrt, auch die Zunge reget, daß Bil- der und Empfindungen geiſtige Merkmale, daß dieſe Merk- male bedeutende, ja bewegende Sprache ſeyn koͤnnen — das Alles iſt ein Concent ſo vieler Anlagen, ein freiwilliger Bund gleichſam, den der Schoͤpfer zwiſchen den verſchiedenſten Sin- nen und Trieben, Kraͤften und Gliedern ſeines Geſchoͤpfs eben ſo wunderbar hat errichten wollen, als er Leib und Seele zu- ſammenfuͤgte.
Wie ſonderbar, daß ein bewegter Lufthauch das einzige, wenigſtens das beſte Mittel unſrer Gedanken und Empfindun- gen ſeyn ſollte! Ohne ſein unbegreifliches Band mit allen ihm ſo ungleichen Handlungen unſrer Seele waͤren dieſe Handlun- gen ungeſchehen, die feinen Zubereitungen unſres Gehirns muͤ-
ßig,
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ihrer Tradition und Cultur iſt nichts als eine Folge dieſes
aufgeloͤſten goͤttlichen Raͤthſels. Was uns daſſelbe noch ſon-
derbarer macht, iſt, daß wir ſelbſt nach ſeiner Aufloͤſung bei
taͤglichem Gebrauch der Rede nicht einmal den Zuſammenhang
der Werkzeuge dazu begreifen. Gehoͤr und Sprache hangen
zuſammen: denn bei den Abartungen der Geſchoͤpfe veraͤndern
ſich ihre Organe offenbar mit einander. Auch ſehen wir, daß
zu ihrem Conſenſus der ganze Koͤrper eingerichtet worden;
die innere Art der Zuſammenwirkung aber begreifen wir nicht.
Daß alle Affekten, inſonderheit Schmerz und Freude Toͤne wer-
den, daß was unſer Ohr hoͤrt, auch die Zunge reget, daß Bil-
der und Empfindungen geiſtige Merkmale, daß dieſe Merk-
male bedeutende, ja bewegende Sprache ſeyn koͤnnen — das
Alles iſt ein Concent ſo vieler Anlagen, ein freiwilliger Bund
gleichſam, den der Schoͤpfer zwiſchen den verſchiedenſten Sin-
nen und Trieben, Kraͤften und Gliedern ſeines Geſchoͤpfs eben
ſo wunderbar hat errichten wollen, als er Leib und Seele zu-
ſammenfuͤgte.
Wie ſonderbar, daß ein bewegter Lufthauch das einzige,
wenigſtens das beſte Mittel unſrer Gedanken und Empfindun-
gen ſeyn ſollte! Ohne ſein unbegreifliches Band mit allen ihm
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/238>, abgerufen am 25.11.2024.
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