ßig, die ganze Anlage unsres Wesens unvollendet geblieben, wie die Beispiele der Menschen, die unter die Thiere geriethen, zeigen. Die Taub- und Stummgebohrnen, ob sie gleich Jahre lang in einer Welt von Gebehrden und andern Jdeenzeichen lebten, betrugen sich dennoch nur wie Kinder oder wie mensch- liche Thiere. Nach der Analogie dessen was sie sahen und nicht verstanden, handelten sie; einer eigentlichen Vernunft- verbindung waren sie durch allen Reichthum des Gesichts nicht fähig worden. Ein Volk hat keine Jdee, zu der es kein Wort hat: die lebhafteste Anschauung bleibt dunkles Gefühl, bis die Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedächt- niß, der Rückerinnerung, dem Verstande, ja endlich dem Ver- stande der Menschen, der Tradition einverleibet: eine reine Vernunft ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land. Mit den Leidenschaften des Herzens, mit allen Neigungen der Gesellschaft ist es nicht anders. Nur die Sprache hat den Menschen menschlich gemacht, indem sie die ungeheure Fluth seiner Affecten in Dämme einschloß und ihr durch Worte ver- nünftige Denkmale setzte. Nicht die Leier Amphions hat Städte errichtet, keine Zauberruthe hat Wüsten in Gärten verwan- delt; die Sprache hat es gethan, sie, die große Gesellerin der Menschen. Durch sie vereinigten sie sich bewillkommend ein- ander und schloßen den Bund der Liebe. Gesetze stiftete sie und verband Geschlechter; nur durch sie ward eine Geschichte
der
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ßig, die ganze Anlage unſres Weſens unvollendet geblieben, wie die Beiſpiele der Menſchen, die unter die Thiere geriethen, zeigen. Die Taub- und Stummgebohrnen, ob ſie gleich Jahre lang in einer Welt von Gebehrden und andern Jdeenzeichen lebten, betrugen ſich dennoch nur wie Kinder oder wie menſch- liche Thiere. Nach der Analogie deſſen was ſie ſahen und nicht verſtanden, handelten ſie; einer eigentlichen Vernunft- verbindung waren ſie durch allen Reichthum des Geſichts nicht faͤhig worden. Ein Volk hat keine Jdee, zu der es kein Wort hat: die lebhafteſte Anſchauung bleibt dunkles Gefuͤhl, bis die Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedaͤcht- niß, der Ruͤckerinnerung, dem Verſtande, ja endlich dem Ver- ſtande der Menſchen, der Tradition einverleibet: eine reine Vernunft ohne Sprache iſt auf Erden ein utopiſches Land. Mit den Leidenſchaften des Herzens, mit allen Neigungen der Geſellſchaft iſt es nicht anders. Nur die Sprache hat den Menſchen menſchlich gemacht, indem ſie die ungeheure Fluth ſeiner Affecten in Daͤmme einſchloß und ihr durch Worte ver- nuͤnftige Denkmale ſetzte. Nicht die Leier Amphions hat Staͤdte errichtet, keine Zauberruthe hat Wuͤſten in Gaͤrten verwan- delt; die Sprache hat es gethan, ſie, die große Geſellerin der Menſchen. Durch ſie vereinigten ſie ſich bewillkommend ein- ander und ſchloßen den Bund der Liebe. Geſetze ſtiftete ſie und verband Geſchlechter; nur durch ſie ward eine Geſchichte
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ßig, die ganze Anlage unſres Weſens unvollendet geblieben,
wie die Beiſpiele der Menſchen, die unter die Thiere geriethen,
zeigen. Die Taub- und Stummgebohrnen, ob ſie gleich Jahre
lang in einer Welt von Gebehrden und andern Jdeenzeichen
lebten, betrugen ſich dennoch nur wie Kinder oder wie menſch-
liche Thiere. Nach der Analogie deſſen was ſie ſahen und
nicht verſtanden, handelten ſie; einer eigentlichen Vernunft-
verbindung waren ſie durch allen Reichthum des Geſichts nicht
faͤhig worden. Ein Volk hat keine Jdee, zu der es kein Wort
hat: die lebhafteſte Anſchauung bleibt dunkles Gefuͤhl, bis die
Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedaͤcht-
niß, der Ruͤckerinnerung, dem Verſtande, ja endlich dem Ver-
ſtande der Menſchen, der Tradition einverleibet: eine reine
Vernunft ohne Sprache iſt auf Erden ein utopiſches Land.
Mit den Leidenſchaften des Herzens, mit allen Neigungen der
Geſellſchaft iſt es nicht anders. Nur die Sprache hat den
Menſchen menſchlich gemacht, indem ſie die ungeheure Fluth
ſeiner Affecten in Daͤmme einſchloß und ihr durch Worte ver-
nuͤnftige Denkmale ſetzte. Nicht die Leier Amphions hat Staͤdte
errichtet, keine Zauberruthe hat Wuͤſten in Gaͤrten verwan-
delt; die Sprache hat es gethan, ſie, die große Geſellerin der
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/239>, abgerufen am 09.11.2024.
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