V. Schlußanmerkungen über den Zwist der Ge- nesis und des Klima.
Jrre ich nicht, so ist mit dem, was bisher wenigstens andeu- tend gesagt worden, der Anfang einer Grenzlinie zu Ueber- sicht dieses Streits gezogen worden. Niemand z. B. wird verlangen, daß in einem fremden Klima die Rose eine Lilie, der Hund ein Wolf werden soll: denn die Natur hat genaue Grenzen um ihre Gattungen gezogen und läßt ein Geschöpf lieber untergehen, als daß es ihr Gebilde wesentlich verrücke oder verderbe. Daß aber die Rose verarten, daß der Hund etwas Wolfartiges an sich nehmen könne; dies ist der Ge- schichte gemäß und auch hier gehet die Verartung nicht anders vor, als durch schnelle oder langsame Gewalt auf die gegen- wirkende organischen Kräfte. Beide Streitführende Mächte sind also von großer Wirkung; nur jede wirket auf eigne Art. Das Klima ist ein Chaos von Ursachen, die einander sehr un- gleich, also auch langsam und verschiedenartig wirken, bis sie etwa zuletzt in das Jnnere eindringen und dieses durch Ge- wohnheit und Genesis selbst ändern; die lebendige Kraft wi- derstehet lange, stark, einartig und nur ihr selbst gleich; da sie
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V. Schlußanmerkungen uͤber den Zwiſt der Ge- neſis und des Klima.
Jrre ich nicht, ſo iſt mit dem, was bisher wenigſtens andeu- tend geſagt worden, der Anfang einer Grenzlinie zu Ueber- ſicht dieſes Streits gezogen worden. Niemand z. B. wird verlangen, daß in einem fremden Klima die Roſe eine Lilie, der Hund ein Wolf werden ſoll: denn die Natur hat genaue Grenzen um ihre Gattungen gezogen und laͤßt ein Geſchoͤpf lieber untergehen, als daß es ihr Gebilde weſentlich verruͤcke oder verderbe. Daß aber die Roſe verarten, daß der Hund etwas Wolfartiges an ſich nehmen koͤnne; dies iſt der Ge- ſchichte gemaͤß und auch hier gehet die Verartung nicht anders vor, als durch ſchnelle oder langſame Gewalt auf die gegen- wirkende organiſchen Kraͤfte. Beide Streitfuͤhrende Maͤchte ſind alſo von großer Wirkung; nur jede wirket auf eigne Art. Das Klima iſt ein Chaos von Urſachen, die einander ſehr un- gleich, alſo auch langſam und verſchiedenartig wirken, bis ſie etwa zuletzt in das Jnnere eindringen und dieſes durch Ge- wohnheit und Geneſis ſelbſt aͤndern; die lebendige Kraft wi- derſtehet lange, ſtark, einartig und nur ihr ſelbſt gleich; da ſie
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Schlußanmerkungen uͤber den Zwiſt der Ge-
neſis und des Klima.
Jrre ich nicht, ſo iſt mit dem, was bisher wenigſtens andeu-
tend geſagt worden, der Anfang einer Grenzlinie zu Ueber-
ſicht dieſes Streits gezogen worden. Niemand z. B. wird
verlangen, daß in einem fremden Klima die Roſe eine Lilie,
der Hund ein Wolf werden ſoll: denn die Natur hat genaue
Grenzen um ihre Gattungen gezogen und laͤßt ein Geſchoͤpf
lieber untergehen, als daß es ihr Gebilde weſentlich verruͤcke
oder verderbe. Daß aber die Roſe verarten, daß der Hund
etwas Wolfartiges an ſich nehmen koͤnne; dies iſt der Ge-
ſchichte gemaͤß und auch hier gehet die Verartung nicht anders
vor, als durch ſchnelle oder langſame Gewalt auf die gegen-
wirkende organiſchen Kraͤfte. Beide Streitfuͤhrende Maͤchte
ſind alſo von großer Wirkung; nur jede wirket auf eigne Art.
Das Klima iſt ein Chaos von Urſachen, die einander ſehr un-
gleich, alſo auch langſam und verſchiedenartig wirken, bis ſie
etwa zuletzt in das Jnnere eindringen und dieſes durch Ge-
wohnheit und Geneſis ſelbſt aͤndern; die lebendige Kraft wi-
derſtehet lange, ſtark, einartig und nur ihr ſelbſt gleich; da ſie
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/131>, abgerufen am 09.11.2024.
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