Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

ten und Züge der Bildung, daß sogar Neigungen und Dispo-
sitionen sich forterben, ist Weltbekannt; ja oft kommen wun-
derbarer Weise die Gestalten lange verstorbener Vorfahren
aus dem Strom der Generation wieder. Eben so unläugbar,
obgleich schwer zu erklären ist der Einfluß mütterlicher Ge-
müths- und Leibeszustände auf den Ungebohrnen, dessen Wir-
kung manches traurige Beispiel Lebenslang mit sich träget. -- --
Zwei Ströme des Lebens hat also die Natur zusammengelei-
tet, um das werdende Geschöpf mit einer ganzen Naturkraft
auszustatten, die nach den Zügen beider Eltern jetzt in ihr selbst
lebe. Manches versunkne Geschlecht ist durch Eine gesunde
und fröhliche Mutter wieder emporgehoben: mancher entkräf-
tete Jüngling mußte im Arm seines Weibes erst selbst zum
lebenden Naturgeschöpf erweckt werden. Auch in der genia-
lischen Bildung der Menschheit also ist Liebe die mächtigste
der Göttinnen: sie veredelt Geschlechter und hebt die gesunk-
nen wieder empor: eine Fackel der Gottheit, durch deren Fun-
ken das Licht des menschlichen Lebens, hier trüber dort heller,
glänzet. Nichts widerstrebet hingegen dem bildenden Genius
der Naturen mehr, als jener kalte Haß oder jene widrige
Convenienz, die ärger als Haß ist. Sie zwingt Menschen zu-
sammen, die nicht für einander gehören und verewigt elende,
mit sich selbst disharmonische Geschöpfe. Kein Thier ver-
sank je so weit, als in dieser Entartung der Mensch versinket.

V.

ten und Zuͤge der Bildung, daß ſogar Neigungen und Diſpo-
ſitionen ſich forterben, iſt Weltbekannt; ja oft kommen wun-
derbarer Weiſe die Geſtalten lange verſtorbener Vorfahren
aus dem Strom der Generation wieder. Eben ſo unlaͤugbar,
obgleich ſchwer zu erklaͤren iſt der Einfluß muͤtterlicher Ge-
muͤths- und Leibeszuſtaͤnde auf den Ungebohrnen, deſſen Wir-
kung manches traurige Beiſpiel Lebenslang mit ſich traͤget. — —
Zwei Stroͤme des Lebens hat alſo die Natur zuſammengelei-
tet, um das werdende Geſchoͤpf mit einer ganzen Naturkraft
auszuſtatten, die nach den Zuͤgen beider Eltern jetzt in ihr ſelbſt
lebe. Manches verſunkne Geſchlecht iſt durch Eine geſunde
und froͤhliche Mutter wieder emporgehoben: mancher entkraͤf-
tete Juͤngling mußte im Arm ſeines Weibes erſt ſelbſt zum
lebenden Naturgeſchoͤpf erweckt werden. Auch in der genia-
liſchen Bildung der Menſchheit alſo iſt Liebe die maͤchtigſte
der Goͤttinnen: ſie veredelt Geſchlechter und hebt die geſunk-
nen wieder empor: eine Fackel der Gottheit, durch deren Fun-
ken das Licht des menſchlichen Lebens, hier truͤber dort heller,
glaͤnzet. Nichts widerſtrebet hingegen dem bildenden Genius
der Naturen mehr, als jener kalte Haß oder jene widrige
Convenienz, die aͤrger als Haß iſt. Sie zwingt Menſchen zu-
ſammen, die nicht fuͤr einander gehoͤren und verewigt elende,
mit ſich ſelbſt disharmoniſche Geſchoͤpfe. Kein Thier ver-
ſank je ſo weit, als in dieſer Entartung der Menſch verſinket.

V.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0130" n="118"/>
ten und Zu&#x0364;ge der Bildung, daß &#x017F;ogar Neigungen und Di&#x017F;po-<lb/>
&#x017F;itionen &#x017F;ich forterben, i&#x017F;t Weltbekannt; ja oft kommen wun-<lb/>
derbarer Wei&#x017F;e die Ge&#x017F;talten lange ver&#x017F;torbener Vorfahren<lb/>
aus dem Strom der Generation wieder. Eben &#x017F;o unla&#x0364;ugbar,<lb/>
obgleich &#x017F;chwer zu erkla&#x0364;ren i&#x017F;t der Einfluß mu&#x0364;tterlicher Ge-<lb/>
mu&#x0364;ths- und Leibeszu&#x017F;ta&#x0364;nde auf den Ungebohrnen, de&#x017F;&#x017F;en Wir-<lb/>
kung manches traurige Bei&#x017F;piel Lebenslang mit &#x017F;ich tra&#x0364;get. &#x2014; &#x2014;<lb/>
Zwei Stro&#x0364;me des Lebens hat al&#x017F;o die Natur zu&#x017F;ammengelei-<lb/>
tet, um das werdende Ge&#x017F;cho&#x0364;pf mit einer ganzen Naturkraft<lb/>
auszu&#x017F;tatten, die nach den Zu&#x0364;gen beider Eltern jetzt in ihr &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
lebe. Manches ver&#x017F;unkne Ge&#x017F;chlecht i&#x017F;t durch Eine ge&#x017F;unde<lb/>
und fro&#x0364;hliche Mutter wieder emporgehoben: mancher entkra&#x0364;f-<lb/>
tete Ju&#x0364;ngling mußte im Arm &#x017F;eines Weibes er&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t zum<lb/>
lebenden Naturge&#x017F;cho&#x0364;pf erweckt werden. Auch in der genia-<lb/>
li&#x017F;chen Bildung der Men&#x017F;chheit al&#x017F;o i&#x017F;t Liebe die ma&#x0364;chtig&#x017F;te<lb/>
der Go&#x0364;ttinnen: &#x017F;ie veredelt Ge&#x017F;chlechter und hebt die ge&#x017F;unk-<lb/>
nen wieder empor: eine Fackel der Gottheit, durch deren Fun-<lb/>
ken das Licht des men&#x017F;chlichen Lebens, hier tru&#x0364;ber dort heller,<lb/>
gla&#x0364;nzet. Nichts wider&#x017F;trebet hingegen dem bildenden Genius<lb/>
der Naturen mehr, als jener kalte Haß oder jene widrige<lb/>
Convenienz, die a&#x0364;rger als Haß i&#x017F;t. Sie zwingt Men&#x017F;chen zu-<lb/>
&#x017F;ammen, die nicht fu&#x0364;r einander geho&#x0364;ren und verewigt elende,<lb/>
mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t disharmoni&#x017F;che Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe. Kein Thier ver-<lb/>
&#x017F;ank je &#x017F;o weit, als in die&#x017F;er Entartung der Men&#x017F;ch ver&#x017F;inket.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#aq">V.</hi> </fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[118/0130] ten und Zuͤge der Bildung, daß ſogar Neigungen und Diſpo- ſitionen ſich forterben, iſt Weltbekannt; ja oft kommen wun- derbarer Weiſe die Geſtalten lange verſtorbener Vorfahren aus dem Strom der Generation wieder. Eben ſo unlaͤugbar, obgleich ſchwer zu erklaͤren iſt der Einfluß muͤtterlicher Ge- muͤths- und Leibeszuſtaͤnde auf den Ungebohrnen, deſſen Wir- kung manches traurige Beiſpiel Lebenslang mit ſich traͤget. — — Zwei Stroͤme des Lebens hat alſo die Natur zuſammengelei- tet, um das werdende Geſchoͤpf mit einer ganzen Naturkraft auszuſtatten, die nach den Zuͤgen beider Eltern jetzt in ihr ſelbſt lebe. Manches verſunkne Geſchlecht iſt durch Eine geſunde und froͤhliche Mutter wieder emporgehoben: mancher entkraͤf- tete Juͤngling mußte im Arm ſeines Weibes erſt ſelbſt zum lebenden Naturgeſchoͤpf erweckt werden. Auch in der genia- liſchen Bildung der Menſchheit alſo iſt Liebe die maͤchtigſte der Goͤttinnen: ſie veredelt Geſchlechter und hebt die geſunk- nen wieder empor: eine Fackel der Gottheit, durch deren Fun- ken das Licht des menſchlichen Lebens, hier truͤber dort heller, glaͤnzet. Nichts widerſtrebet hingegen dem bildenden Genius der Naturen mehr, als jener kalte Haß oder jene widrige Convenienz, die aͤrger als Haß iſt. Sie zwingt Menſchen zu- ſammen, die nicht fuͤr einander gehoͤren und verewigt elende, mit ſich ſelbſt disharmoniſche Geſchoͤpfe. Kein Thier ver- ſank je ſo weit, als in dieſer Entartung der Menſch verſinket. V.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/130
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/130>, abgerufen am 02.05.2024.