ten und Züge der Bildung, daß sogar Neigungen und Dispo- sitionen sich forterben, ist Weltbekannt; ja oft kommen wun- derbarer Weise die Gestalten lange verstorbener Vorfahren aus dem Strom der Generation wieder. Eben so unläugbar, obgleich schwer zu erklären ist der Einfluß mütterlicher Ge- müths- und Leibeszustände auf den Ungebohrnen, dessen Wir- kung manches traurige Beispiel Lebenslang mit sich träget. -- -- Zwei Ströme des Lebens hat also die Natur zusammengelei- tet, um das werdende Geschöpf mit einer ganzen Naturkraft auszustatten, die nach den Zügen beider Eltern jetzt in ihr selbst lebe. Manches versunkne Geschlecht ist durch Eine gesunde und fröhliche Mutter wieder emporgehoben: mancher entkräf- tete Jüngling mußte im Arm seines Weibes erst selbst zum lebenden Naturgeschöpf erweckt werden. Auch in der genia- lischen Bildung der Menschheit also ist Liebe die mächtigste der Göttinnen: sie veredelt Geschlechter und hebt die gesunk- nen wieder empor: eine Fackel der Gottheit, durch deren Fun- ken das Licht des menschlichen Lebens, hier trüber dort heller, glänzet. Nichts widerstrebet hingegen dem bildenden Genius der Naturen mehr, als jener kalte Haß oder jene widrige Convenienz, die ärger als Haß ist. Sie zwingt Menschen zu- sammen, die nicht für einander gehören und verewigt elende, mit sich selbst disharmonische Geschöpfe. Kein Thier ver- sank je so weit, als in dieser Entartung der Mensch versinket.
V.
ten und Zuͤge der Bildung, daß ſogar Neigungen und Diſpo- ſitionen ſich forterben, iſt Weltbekannt; ja oft kommen wun- derbarer Weiſe die Geſtalten lange verſtorbener Vorfahren aus dem Strom der Generation wieder. Eben ſo unlaͤugbar, obgleich ſchwer zu erklaͤren iſt der Einfluß muͤtterlicher Ge- muͤths- und Leibeszuſtaͤnde auf den Ungebohrnen, deſſen Wir- kung manches traurige Beiſpiel Lebenslang mit ſich traͤget. — — Zwei Stroͤme des Lebens hat alſo die Natur zuſammengelei- tet, um das werdende Geſchoͤpf mit einer ganzen Naturkraft auszuſtatten, die nach den Zuͤgen beider Eltern jetzt in ihr ſelbſt lebe. Manches verſunkne Geſchlecht iſt durch Eine geſunde und froͤhliche Mutter wieder emporgehoben: mancher entkraͤf- tete Juͤngling mußte im Arm ſeines Weibes erſt ſelbſt zum lebenden Naturgeſchoͤpf erweckt werden. Auch in der genia- liſchen Bildung der Menſchheit alſo iſt Liebe die maͤchtigſte der Goͤttinnen: ſie veredelt Geſchlechter und hebt die geſunk- nen wieder empor: eine Fackel der Gottheit, durch deren Fun- ken das Licht des menſchlichen Lebens, hier truͤber dort heller, glaͤnzet. Nichts widerſtrebet hingegen dem bildenden Genius der Naturen mehr, als jener kalte Haß oder jene widrige Convenienz, die aͤrger als Haß iſt. Sie zwingt Menſchen zu- ſammen, die nicht fuͤr einander gehoͤren und verewigt elende, mit ſich ſelbſt disharmoniſche Geſchoͤpfe. Kein Thier ver- ſank je ſo weit, als in dieſer Entartung der Menſch verſinket.
V.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0130"n="118"/>
ten und Zuͤge der Bildung, daß ſogar Neigungen und Diſpo-<lb/>ſitionen ſich forterben, iſt Weltbekannt; ja oft kommen wun-<lb/>
derbarer Weiſe die Geſtalten lange verſtorbener Vorfahren<lb/>
aus dem Strom der Generation wieder. Eben ſo unlaͤugbar,<lb/>
obgleich ſchwer zu erklaͤren iſt der Einfluß muͤtterlicher Ge-<lb/>
muͤths- und Leibeszuſtaͤnde auf den Ungebohrnen, deſſen Wir-<lb/>
kung manches traurige Beiſpiel Lebenslang mit ſich traͤget. ——<lb/>
Zwei Stroͤme des Lebens hat alſo die Natur zuſammengelei-<lb/>
tet, um das werdende Geſchoͤpf mit einer ganzen Naturkraft<lb/>
auszuſtatten, die nach den Zuͤgen beider Eltern jetzt in ihr ſelbſt<lb/>
lebe. Manches verſunkne Geſchlecht iſt durch Eine geſunde<lb/>
und froͤhliche Mutter wieder emporgehoben: mancher entkraͤf-<lb/>
tete Juͤngling mußte im Arm ſeines Weibes erſt ſelbſt zum<lb/>
lebenden Naturgeſchoͤpf erweckt werden. Auch in der genia-<lb/>
liſchen Bildung der Menſchheit alſo iſt Liebe die maͤchtigſte<lb/>
der Goͤttinnen: ſie veredelt Geſchlechter und hebt die geſunk-<lb/>
nen wieder empor: eine Fackel der Gottheit, durch deren Fun-<lb/>
ken das Licht des menſchlichen Lebens, hier truͤber dort heller,<lb/>
glaͤnzet. Nichts widerſtrebet hingegen dem bildenden Genius<lb/>
der Naturen mehr, als jener kalte Haß oder jene widrige<lb/>
Convenienz, die aͤrger als Haß iſt. Sie zwingt Menſchen zu-<lb/>ſammen, die nicht fuͤr einander gehoͤren und verewigt elende,<lb/>
mit ſich ſelbſt disharmoniſche Geſchoͤpfe. Kein Thier ver-<lb/>ſank je ſo weit, als in dieſer Entartung der Menſch verſinket.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#aq">V.</hi></fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[118/0130]
ten und Zuͤge der Bildung, daß ſogar Neigungen und Diſpo-
ſitionen ſich forterben, iſt Weltbekannt; ja oft kommen wun-
derbarer Weiſe die Geſtalten lange verſtorbener Vorfahren
aus dem Strom der Generation wieder. Eben ſo unlaͤugbar,
obgleich ſchwer zu erklaͤren iſt der Einfluß muͤtterlicher Ge-
muͤths- und Leibeszuſtaͤnde auf den Ungebohrnen, deſſen Wir-
kung manches traurige Beiſpiel Lebenslang mit ſich traͤget. — —
Zwei Stroͤme des Lebens hat alſo die Natur zuſammengelei-
tet, um das werdende Geſchoͤpf mit einer ganzen Naturkraft
auszuſtatten, die nach den Zuͤgen beider Eltern jetzt in ihr ſelbſt
lebe. Manches verſunkne Geſchlecht iſt durch Eine geſunde
und froͤhliche Mutter wieder emporgehoben: mancher entkraͤf-
tete Juͤngling mußte im Arm ſeines Weibes erſt ſelbſt zum
lebenden Naturgeſchoͤpf erweckt werden. Auch in der genia-
liſchen Bildung der Menſchheit alſo iſt Liebe die maͤchtigſte
der Goͤttinnen: ſie veredelt Geſchlechter und hebt die geſunk-
nen wieder empor: eine Fackel der Gottheit, durch deren Fun-
ken das Licht des menſchlichen Lebens, hier truͤber dort heller,
glaͤnzet. Nichts widerſtrebet hingegen dem bildenden Genius
der Naturen mehr, als jener kalte Haß oder jene widrige
Convenienz, die aͤrger als Haß iſt. Sie zwingt Menſchen zu-
ſammen, die nicht fuͤr einander gehoͤren und verewigt elende,
mit ſich ſelbſt disharmoniſche Geſchoͤpfe. Kein Thier ver-
ſank je ſo weit, als in dieſer Entartung der Menſch verſinket.
V.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/130>, abgerufen am 09.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.