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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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rakterisiret. Unter den Neuern hat der Polyklet unsres Va-
terlandes Albrecht Dürera) das Maas verschiedner Pro-
portionen des menschlichen Körpers sorgfältig untersucht und
jedem Auge wird dabei offenbar, daß die Bildung aller Thei-
le sich mit den Verhältnissen ändre. Wie nun? wenn wir
Dürers Genauigkeit mit dem Seelengefühl der Alten ver-
bänden und die Verschiedenheit menschlicher Hauptformen
und Charaktere in ihrem zusammenstimmenden Gebilde stu-
dirten? Mich dünkt, die Physiognomik träte damit auf den
alten natürlichen Weg, auf den sie ihr Name weiset; nach
welchem sie weder eine Etho- noch Technognomik, sondern
die Auslegerin der lebendigen Natur eines Menschen,
gleichsam die Dolmetscherin seines sichtbargewordenen Genius
seyn soll. Da sie in diesen Schranken der Analogie des Gan-
zen, das auch im Antlitz das sprechendste ist, stets treu bleibt:
so muß die Pathognomik ihre Schwester, die Physiologie
und Semiotik ihre Mithelferin und Freundin werden: denn
die Gestalt des Menschen ist doch nur eine Hülle des innern
Triebwerks, ein zusammenstimmendes Ganze, wo jeder Buch-
stab zwar zum Wort gehört, aber nur das ganze Wort einen
Sinn giebt. Jm gemeinen Leben brauchen und üben wir die
Physiognomik also: der geübte Arzt siehet, welchen Krank-

heiten
a) Albrecht Dürers 4 Bücher von menschlicher Proportion. Nürn-
berg 1528.

rakteriſiret. Unter den Neuern hat der Polyklet unſres Va-
terlandes Albrecht Duͤrera) das Maas verſchiedner Pro-
portionen des menſchlichen Koͤrpers ſorgfaͤltig unterſucht und
jedem Auge wird dabei offenbar, daß die Bildung aller Thei-
le ſich mit den Verhaͤltniſſen aͤndre. Wie nun? wenn wir
Duͤrers Genauigkeit mit dem Seelengefuͤhl der Alten ver-
baͤnden und die Verſchiedenheit menſchlicher Hauptformen
und Charaktere in ihrem zuſammenſtimmenden Gebilde ſtu-
dirten? Mich duͤnkt, die Phyſiognomik traͤte damit auf den
alten natuͤrlichen Weg, auf den ſie ihr Name weiſet; nach
welchem ſie weder eine Etho- noch Technognomik, ſondern
die Auslegerin der lebendigen Natur eines Menſchen,
gleichſam die Dolmetſcherin ſeines ſichtbargewordenen Genius
ſeyn ſoll. Da ſie in dieſen Schranken der Analogie des Gan-
zen, das auch im Antlitz das ſprechendſte iſt, ſtets treu bleibt:
ſo muß die Pathognomik ihre Schweſter, die Phyſiologie
und Semiotik ihre Mithelferin und Freundin werden: denn
die Geſtalt des Menſchen iſt doch nur eine Huͤlle des innern
Triebwerks, ein zuſammenſtimmendes Ganze, wo jeder Buch-
ſtab zwar zum Wort gehoͤrt, aber nur das ganze Wort einen
Sinn giebt. Jm gemeinen Leben brauchen und uͤben wir die
Phyſiognomik alſo: der geuͤbte Arzt ſiehet, welchen Krank-

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a) Albrecht Duͤrers 4 Buͤcher von menſchlicher Proportion. Nuͤrn-
berg 1528.
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[114/0126] rakteriſiret. Unter den Neuern hat der Polyklet unſres Va- terlandes Albrecht Duͤrer a) das Maas verſchiedner Pro- portionen des menſchlichen Koͤrpers ſorgfaͤltig unterſucht und jedem Auge wird dabei offenbar, daß die Bildung aller Thei- le ſich mit den Verhaͤltniſſen aͤndre. Wie nun? wenn wir Duͤrers Genauigkeit mit dem Seelengefuͤhl der Alten ver- baͤnden und die Verſchiedenheit menſchlicher Hauptformen und Charaktere in ihrem zuſammenſtimmenden Gebilde ſtu- dirten? Mich duͤnkt, die Phyſiognomik traͤte damit auf den alten natuͤrlichen Weg, auf den ſie ihr Name weiſet; nach welchem ſie weder eine Etho- noch Technognomik, ſondern die Auslegerin der lebendigen Natur eines Menſchen, gleichſam die Dolmetſcherin ſeines ſichtbargewordenen Genius ſeyn ſoll. Da ſie in dieſen Schranken der Analogie des Gan- zen, das auch im Antlitz das ſprechendſte iſt, ſtets treu bleibt: ſo muß die Pathognomik ihre Schweſter, die Phyſiologie und Semiotik ihre Mithelferin und Freundin werden: denn die Geſtalt des Menſchen iſt doch nur eine Huͤlle des innern Triebwerks, ein zuſammenſtimmendes Ganze, wo jeder Buch- ſtab zwar zum Wort gehoͤrt, aber nur das ganze Wort einen Sinn giebt. Jm gemeinen Leben brauchen und uͤben wir die Phyſiognomik alſo: der geuͤbte Arzt ſiehet, welchen Krank- heiten a) Albrecht Duͤrers 4 Buͤcher von menſchlicher Proportion. Nuͤrn- berg 1528.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/126>, abgerufen am 24.11.2024.