Warum zeichnet sich Europa durch seine Verschiedenheit von Nationen, durch seine Vielgewandtheit von Sitten und Künsten, am meisten aber durch die Wirksamkeit aus, die es auf alle Theile der Welt gehabt hat? Jch weiß wohl, daß es einen Zusammenfluß von Ursachen giebt, den wir hier nicht auseinander leiten können; physisch aber ists unläug- bar, daß sein durchschnittenes, vielgestaltiges Land mit dazu eine veranlassende und fördernde Ursache gewesen. Als auf verschiednen Wegen und zu verschiednen Zeiten sich die Völ- ker Asiens hieher zogen: welche Buchten und Busen, wie viele und verschieden laufende Ströme, welche Abwechselung kleiner Bergreihen fanden sie hier! Sie konnten zusammen seyn und sich trennen, auf einander wirken und wieder in Friede leben; der vielgegliederte kleine Welttheil ward also der Markt und das Gedränge aller Erdvölker im Kleinen. Das einzige mittelländische Meer, wie sehr ist es die Be- stimmerin des ganzen Europa worden! so daß man beinah sagen kann, daß dies Meer allein den Ueber- und Fortgang aller alten und mittlern Cultur gemacht habe. Die Ostsee stehet ihm weit nach, weil sie nördlicher, zwischen härtern Nationen und unfruchtbarern Ländern, gleichsam auf einer Neben- straße des Weltmarkts, liegt; indessen ist auch sie dem gan- zen Nord-Europa das Auge. Ohne sie wären die meisten ihr angrenzenden Länder barbarisch, kalt und unbewohnbar.
Ein
Warum zeichnet ſich Europa durch ſeine Verſchiedenheit von Nationen, durch ſeine Vielgewandtheit von Sitten und Kuͤnſten, am meiſten aber durch die Wirkſamkeit aus, die es auf alle Theile der Welt gehabt hat? Jch weiß wohl, daß es einen Zuſammenfluß von Urſachen giebt, den wir hier nicht auseinander leiten koͤnnen; phyſiſch aber iſts unlaͤug- bar, daß ſein durchſchnittenes, vielgeſtaltiges Land mit dazu eine veranlaſſende und foͤrdernde Urſache geweſen. Als auf verſchiednen Wegen und zu verſchiednen Zeiten ſich die Voͤl- ker Aſiens hieher zogen: welche Buchten und Buſen, wie viele und verſchieden laufende Stroͤme, welche Abwechſelung kleiner Bergreihen fanden ſie hier! Sie konnten zuſammen ſeyn und ſich trennen, auf einander wirken und wieder in Friede leben; der vielgegliederte kleine Welttheil ward alſo der Markt und das Gedraͤnge aller Erdvoͤlker im Kleinen. Das einzige mittellaͤndiſche Meer, wie ſehr iſt es die Be- ſtimmerin des ganzen Europa worden! ſo daß man beinah ſagen kann, daß dies Meer allein den Ueber- und Fortgang aller alten und mittlern Cultur gemacht habe. Die Oſtſee ſtehet ihm weit nach, weil ſie noͤrdlicher, zwiſchen haͤrtern Nationen und unfruchtbarern Laͤndern, gleichſam auf einer Neben- ſtraße des Weltmarkts, liegt; indeſſen iſt auch ſie dem gan- zen Nord-Europa das Auge. Ohne ſie waͤren die meiſten ihr angrenzenden Laͤnder barbariſch, kalt und unbewohnbar.
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Warum zeichnet ſich Europa durch ſeine Verſchiedenheit
von Nationen, durch ſeine Vielgewandtheit von Sitten und
Kuͤnſten, am meiſten aber durch die Wirkſamkeit aus, die
es auf alle Theile der Welt gehabt hat? Jch weiß wohl,
daß es einen Zuſammenfluß von Urſachen giebt, den wir hier
nicht auseinander leiten koͤnnen; phyſiſch aber iſts unlaͤug-
bar, daß ſein durchſchnittenes, vielgeſtaltiges Land mit dazu
eine veranlaſſende und foͤrdernde Urſache geweſen. Als auf
verſchiednen Wegen und zu verſchiednen Zeiten ſich die Voͤl-
ker Aſiens hieher zogen: welche Buchten und Buſen, wie
viele und verſchieden laufende Stroͤme, welche Abwechſelung
kleiner Bergreihen fanden ſie hier! Sie konnten zuſammen
ſeyn und ſich trennen, auf einander wirken und wieder in
Friede leben; der vielgegliederte kleine Welttheil ward alſo
der Markt und das Gedraͤnge aller Erdvoͤlker im Kleinen.
Das einzige mittellaͤndiſche Meer, wie ſehr iſt es die Be-
ſtimmerin des ganzen Europa worden! ſo daß man beinah
ſagen kann, daß dies Meer allein den Ueber- und Fortgang
aller alten und mittlern Cultur gemacht habe. Die Oſtſee ſtehet
ihm weit nach, weil ſie noͤrdlicher, zwiſchen haͤrtern Nationen
und unfruchtbarern Laͤndern, gleichſam auf einer Neben-
ſtraße des Weltmarkts, liegt; indeſſen iſt auch ſie dem gan-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/68>, abgerufen am 25.11.2024.
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