soll, außer einigen nothdürftigen Trieben, alles was zur Ver- nunft und Humanität gehört, erst lernen. Er lernets also unvollkommen, weil er mit dem Samen des Verstandes und der Tugend auch Vorurtheile und üble Sitten erbet und in seinem Gange zur Wahrheit und Seelenfreiheit mit Ketten beschwert ist, die vom Anfange seines Geschlechts herreichen. Die Fußtapfen, die göttliche Menschen vor und um ihn ge- zeichnet, sind mit so viel andern verwirrt und zusammenge- treten, in denen Thiere und Räuber wandelten und leider! oft wirksamer waren als jene wenige erwählte, große und gu- te Menschen. Man würde also (wie es auch viele gethan haben), die Vorsehung anklagen müssen, daß sie den Men- schen so nah ans Thier grenzen lassen und ihm, da er dennoch nicht Thier seyn sollte, den Grad von Licht, Vestigkeit und Sicherheit versagt habe, der seiner Vernunft statt des Jn- stinkts hätte dienen können; oder dieser dürftige Anfang ist eben seines unendlichen Fortganges Zeuge. Der Mensch soll sich nemlich diesen Grad des Lichts und der Sicherheit durch Uebung selbst erwerben, damit er unter der Leitung sei- nes Vaters ein edler Freier durch eigne Bemühung werde und er wirds werden. Auch der Menschenähnliche wird Mensch seyn: auch die durch Kälte und Sonnenbrand er- starrte und verdorrte Knospe der Humanität wird aufblü- hen zu ihrer wahren Gestalt, zu ihrer eigentlichen und gan- zen Schönheit.
Und
ſoll, außer einigen nothduͤrftigen Trieben, alles was zur Ver- nunft und Humanitaͤt gehoͤrt, erſt lernen. Er lernets alſo unvollkommen, weil er mit dem Samen des Verſtandes und der Tugend auch Vorurtheile und uͤble Sitten erbet und in ſeinem Gange zur Wahrheit und Seelenfreiheit mit Ketten beſchwert iſt, die vom Anfange ſeines Geſchlechts herreichen. Die Fußtapfen, die goͤttliche Menſchen vor und um ihn ge- zeichnet, ſind mit ſo viel andern verwirrt und zuſammenge- treten, in denen Thiere und Raͤuber wandelten und leider! oft wirkſamer waren als jene wenige erwaͤhlte, große und gu- te Menſchen. Man wuͤrde alſo (wie es auch viele gethan haben), die Vorſehung anklagen muͤſſen, daß ſie den Men- ſchen ſo nah ans Thier grenzen laſſen und ihm, da er dennoch nicht Thier ſeyn ſollte, den Grad von Licht, Veſtigkeit und Sicherheit verſagt habe, der ſeiner Vernunft ſtatt des Jn- ſtinkts haͤtte dienen koͤnnen; oder dieſer duͤrftige Anfang iſt eben ſeines unendlichen Fortganges Zeuge. Der Menſch ſoll ſich nemlich dieſen Grad des Lichts und der Sicherheit durch Uebung ſelbſt erwerben, damit er unter der Leitung ſei- nes Vaters ein edler Freier durch eigne Bemuͤhung werde und er wirds werden. Auch der Menſchenaͤhnliche wird Menſch ſeyn: auch die durch Kaͤlte und Sonnenbrand er- ſtarrte und verdorrte Knoſpe der Humanitaͤt wird aufbluͤ- hen zu ihrer wahren Geſtalt, zu ihrer eigentlichen und gan- zen Schoͤnheit.
Und
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[302[282]/0304]
ſoll, außer einigen nothduͤrftigen Trieben, alles was zur Ver-
nunft und Humanitaͤt gehoͤrt, erſt lernen. Er lernets alſo
unvollkommen, weil er mit dem Samen des Verſtandes und
der Tugend auch Vorurtheile und uͤble Sitten erbet und in
ſeinem Gange zur Wahrheit und Seelenfreiheit mit Ketten
beſchwert iſt, die vom Anfange ſeines Geſchlechts herreichen.
Die Fußtapfen, die goͤttliche Menſchen vor und um ihn ge-
zeichnet, ſind mit ſo viel andern verwirrt und zuſammenge-
treten, in denen Thiere und Raͤuber wandelten und leider!
oft wirkſamer waren als jene wenige erwaͤhlte, große und gu-
te Menſchen. Man wuͤrde alſo (wie es auch viele gethan
haben), die Vorſehung anklagen muͤſſen, daß ſie den Men-
ſchen ſo nah ans Thier grenzen laſſen und ihm, da er dennoch
nicht Thier ſeyn ſollte, den Grad von Licht, Veſtigkeit und
Sicherheit verſagt habe, der ſeiner Vernunft ſtatt des Jn-
ſtinkts haͤtte dienen koͤnnen; oder dieſer duͤrftige Anfang iſt
eben ſeines unendlichen Fortganges Zeuge. Der Menſch
ſoll ſich nemlich dieſen Grad des Lichts und der Sicherheit
durch Uebung ſelbſt erwerben, damit er unter der Leitung ſei-
nes Vaters ein edler Freier durch eigne Bemuͤhung werde
und er wirds werden. Auch der Menſchenaͤhnliche wird
Menſch ſeyn: auch die durch Kaͤlte und Sonnenbrand er-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 302[282]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/304>, abgerufen am 23.11.2024.
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