Mittheilung zweener Wesen, die sich durchs ganze Leben zu Einem vereint fühlen.
3. Da außer der mittheilenden Liebe alle andere zärt- lichen Affekten sich mit der Theilnehmung begnügen: so hat die Natur den Menschen unter allen Lebendigen zum theilnehmendsten geschaffen, weil sie ihn gleichsam aus al- lem geformt und jedem Reich der Schöpfung in dem Ver- hältniß ähnlich organisirt hat, als er mit demselben mitfühlen sollte. Sein Fiberngebäude ist so elastisch fein und zart, und sein Nervengebäude so verschlungen in alle Theile seines vi- brirenden Wesens, daß er als ein Analogon der alles durch- fühlenden Gottheit sich beinah in jedes Geschöpf setzen und gerade in dem Maas mit ihm empfinden kann, als das Ge- schöpf es bedarf und sein Ganzes es ohne eigene Zerrüttung, ja selbst mit Gefahr derselben, leidet. Auch an einem Baum nimmt unsre Maschine Theil, sofern sie ein wachsender grü- nender Baum ist; und es gibt Menschen, die den Sturz oder die Verstümmelung desselben in seiner grünenden Ju- gendgestalt körperlich nicht ertragen. Seine verdorrete Kro- ne thut uns leid; wir trauren um eine verwelkende liebe Blu- me. Auch das Krümmen des zerquetschten Wurms ist ei- nem zarten Menschen nicht gleichgültig; und je vollkomme- ner das Thier ist, je mehr es in seiner Organisation uns nahe
kommt:
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Mittheilung zweener Weſen, die ſich durchs ganze Leben zu Einem vereint fuͤhlen.
3. Da außer der mittheilenden Liebe alle andere zaͤrt- lichen Affekten ſich mit der Theilnehmung begnuͤgen: ſo hat die Natur den Menſchen unter allen Lebendigen zum theilnehmendſten geſchaffen, weil ſie ihn gleichſam aus al- lem geformt und jedem Reich der Schoͤpfung in dem Ver- haͤltniß aͤhnlich organiſirt hat, als er mit demſelben mitfuͤhlen ſollte. Sein Fiberngebaͤude iſt ſo elaſtiſch fein und zart, und ſein Nervengebaͤude ſo verſchlungen in alle Theile ſeines vi- brirenden Weſens, daß er als ein Analogon der alles durch- fuͤhlenden Gottheit ſich beinah in jedes Geſchoͤpf ſetzen und gerade in dem Maas mit ihm empfinden kann, als das Ge- ſchoͤpf es bedarf und ſein Ganzes es ohne eigene Zerruͤttung, ja ſelbſt mit Gefahr derſelben, leidet. Auch an einem Baum nimmt unſre Maſchine Theil, ſofern ſie ein wachſender gruͤ- nender Baum iſt; und es gibt Menſchen, die den Sturz oder die Verſtuͤmmelung deſſelben in ſeiner gruͤnenden Ju- gendgeſtalt koͤrperlich nicht ertragen. Seine verdorrete Kro- ne thut uns leid; wir trauren um eine verwelkende liebe Blu- me. Auch das Kruͤmmen des zerquetſchten Wurms iſt ei- nem zarten Menſchen nicht gleichguͤltig; und je vollkomme- ner das Thier iſt, je mehr es in ſeiner Organiſation uns nahe
kommt:
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[247[227]/0249]
Mittheilung zweener Weſen, die ſich durchs ganze Leben zu
Einem vereint fuͤhlen.
3. Da außer der mittheilenden Liebe alle andere zaͤrt-
lichen Affekten ſich mit der Theilnehmung begnuͤgen: ſo
hat die Natur den Menſchen unter allen Lebendigen zum
theilnehmendſten geſchaffen, weil ſie ihn gleichſam aus al-
lem geformt und jedem Reich der Schoͤpfung in dem Ver-
haͤltniß aͤhnlich organiſirt hat, als er mit demſelben mitfuͤhlen
ſollte. Sein Fiberngebaͤude iſt ſo elaſtiſch fein und zart, und
ſein Nervengebaͤude ſo verſchlungen in alle Theile ſeines vi-
brirenden Weſens, daß er als ein Analogon der alles durch-
fuͤhlenden Gottheit ſich beinah in jedes Geſchoͤpf ſetzen und
gerade in dem Maas mit ihm empfinden kann, als das Ge-
ſchoͤpf es bedarf und ſein Ganzes es ohne eigene Zerruͤttung,
ja ſelbſt mit Gefahr derſelben, leidet. Auch an einem Baum
nimmt unſre Maſchine Theil, ſofern ſie ein wachſender gruͤ-
nender Baum iſt; und es gibt Menſchen, die den Sturz
oder die Verſtuͤmmelung deſſelben in ſeiner gruͤnenden Ju-
gendgeſtalt koͤrperlich nicht ertragen. Seine verdorrete Kro-
ne thut uns leid; wir trauren um eine verwelkende liebe Blu-
me. Auch das Kruͤmmen des zerquetſchten Wurms iſt ei-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 247[227]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/249>, abgerufen am 23.11.2024.
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